Vorgeschickt mit Dzembowski, um ein neues Quartier für das Generalkommando in nordöstlicher Richtung, in der Gegend von Cierniewice zu suchen. Um 10 abgeritten. Auf der Strasse von Tomaszow nach Cierniewice, die mir vom 27ten Oktober so vertraut ist, endlose Kolonnen in Vorwärtsbewegung. Unser Corps und das Kavalleriecorps schieben sich hier durcheinander. Teile des Kavalleriekorps waren noch bei Lubochnia mitten zwischen unserer 48ten Division. Bei Cierniewice bogen wir von der Chaussee nordöstl. auf Krzemienica ab, um nach Chociw zu reiten und dort das Gut zu besehen. In und vor Krzemieniça stand abgesessen die fünfte Kavalleriedivision, östlich und nördlich war ziemlich lebhaftes Geschützfeuer. Da die Brücke vor Krzemienica nicht passierbar war, zurück und Strzemeszna wieder vor auf Chociw. Jetzt, gegen halb zwei, wurde das Geschützfeuer heftiger und rückte näher. Wir sahen, wie eine Schwadron auf der Höhe vor Krzemenica im Trab zurückgieng. Als wir bei Chociw ankamen, hörte man in kurzer Entfernung Infanteriefeuer, auch deutliches Pfeifen der russischen Granaten, die hinter dem Gutshaus einschlugen. Im Dorfe schleppten die Bauern ihre Sachen aus den Häusern. Auf dem Gutshof stand eine Ulanenpatrouille hinter dem Inspektorhaus in Deckung. Einige Bäuerinnen, junge Dirnen in bunten roten Röcken und Kopftüchern, liefen eilig hin und her; dabei verrichteten die Knechte gewohnheitsmässig ihre Arbeit. Ich gieng ins Gutshaus, ein für polnische Verhältnisse grosses, altmodisch aber gut eingerichtetes Schloss. Der Besitzer und seine Frau kamen mir im Vorzimmer entgegen und fragten etwas nervös, ob Gefahr sei, ob sie in den Keller müssten, das Gefecht schiene doch heranzukommen. Ich beruhigte sie und bemerkte dann einen jungen hübschen Ulanen, der im Salon vor Dzembowski und mir stramm stand und der sich als Fahnenjunker von Grote vorstellte. Er war der Führer der Patrouille, die auf dem Hof in Deckung stand, und hatte sich hier im Hause ein Glas Thee ausgebeten. Er sagte, sein Regiment, die 10ten Ulanen, sei 1500 Meter von hier bei Wale zum Gefecht zu Fuss abgesessen; er sei als Seitenpatrouille abgeschickt, könne aber nicht mehr zurück. Nach seinem Empfinden hätten die Russen Boden gewonnen. Ich liess mich von den Besitzern durch das Haus führen, um einen Überblick zu gewinnen, und gieng dann mit einem grossen dicken komischen Inspektor in Pelzmütze und Wasserstiefeln durch die Nebengebäude, um die, immer aufgeregter, Bäuerinnen mit Kindern und allerlei Zeug, das sie fortschleppten, herumliefen. Zwei Granaten schlugen dicht hintereinander in einem Sumpf hundert bis zweihundert Meter hinter den Stallungen ein und erhöhten die Angst. Als wir wegritten, sahen wir bei Krzemienica die Kavalleriedivision noch immer abgesessen stehen; aber Infanterie und Artillerie war dazugekommen und hatte die Höhen gegen Nordosten besetzt. Nach meinem Empfinden war das Ganze nur ein etwas heftiges Gefecht der russischen Nachhut, die standhielt, um irgendwelche wichtigeren Truppenverschiebungen rückwärts zu verdecken. Der Rückritt in Dunkelheit und Regen auf der von marschierenden Kolonnen besetzten schlechten schmutzigen Chaussee nach Tomaszow war unangenehm. Ich machte meine Meldung an Thomsen, der ebenfalls an Nichts Andres als an ein Nachhutgefecht glauben will; allerdings hinzu fügte, dass man nicht wisse, was in dem Raume südlich der Pilica los sei, wo starke russische Kräfte gemeldet seien. Auf meine Bemerkung, dass wir diese Kräfte doch flankierten, bemerkte er, dass sie ebenso in unserer Flanke stünden. Eigentlich sollten die Österreicher hier vorgehen, scheinen aber bis jetzt untätig noch auf dem linken Ufer der Pilica zu stehen.
19. Dez 1914. Sonnabend. Tomaszów
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Bundesarchiv, Bild 136-C0176 / CC-BY-SA