Nach Koschentin ins Corps Commando. Unterwegs Station in Lublinitz, wo der alte Woyrsch in der Weinstube sass und mit seinem Adjutanten Schuckmann Weinprobe hielt. Merkwürdig, dass ein Armeeführer während einer Entscheidungsschlacht Weinprobe halten kann; aber so ist der moderne Krieg, es ist in der Tat Nichts dagegen einzuwenden, da es sich für den General nur um ein stetes Erreichbarsein für Vorträge und Bureauarbeit handelt. In Koschentin liess sich Woyrsch vor Tisch noch von Heie Vortrag halten und war dann wieder für Diner und Bridge frei. Das Hauptquartier sitzt jetzt voll von Österreichern, Offizieren und freiwilligen Automobilisten. Wir machen jetzt den Österreichern die Cour. Wolff dementiert mit Entrüstung, dass je „Unstimmigkeiten“ vorgekommen wären. Hindenburg und Moltke haben sich interviewen lassen. Alle Zeitungen bringen Leitartikel, die unsere dicke Freundschaft ziemlich plump unterstreichen. Bennecke und die andren Generalstäbler fragten mich aus nach dem, was ich bei Rendziny und Radostków gesehen hätte. Sie kommen nie oder selten in die Front. Ich sagte ihnen, dass wir seit zwei Tagen bei Rudniki garnicht vorwärts gekommen seien. Man scheine dort auf Etwas zu warten. Bennecke und die Andren meinten, warum auch dort vorwärtsgehen? Es wäre die Menschenopfer nicht wert. Wahrscheinlich würde sich hier, wenn nicht schnell die Entscheidung durch Einkesselung gelinge, ein Stellungskampf wie in Frankreich entwickeln. Die Verstärkungen, die aus Warschau gegen Mackensen bei Lodz anmarschieren, machen Sorgen, sie können die Entscheidung aufhalten oder vereiteln. Im Übrigen scheint die Perspektive eines Stellungskampfes in Koschentin nicht unangenehm empfunden zu werden. Damit sei ja die deutsche Grenze geschützt. Etwas mag auch das sehr angenehme Quartier in Koschentin zu dieser Stimmung beitragen. Man isst unten an einer langen Tafel in einem grossen hübschen sehr alten weissen Saal, oben wird nachher Bridge gespielt, gekannegiessert und geraucht. Stolberg ist fort als Nachrichtenoffizier bei Schmettow, Bethusy ebenso zu Dankl nach Kreuzburg. Spät Abends nach Lublinitz zurück. Sternenhelle Nacht. Dem unverrückbaren Gerüst der Sterne gegenüber erscheint unser Krieg ebenso klein wie nach dem gewaltigen Erlebnis dieses Krieges Alles was vorher wichtig schien.
23. Nov. Montag. Gnàszyn (Koschentin).
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Bundesarchiv, Bild 146-2007-0160 / CC-BY-SA (WikimediaCommons)