Die Nachricht von einem grossen Erfolg Hindenburgs bei Lodz bestätigt sich. 40 000 Gefangene, 156 Maschinengewehre, 100 Geschütze. Um die Division Schmettow aufzusuchen, bei der Stolberg kommandiert sein sollte, nach Klobucko (16 km Nordwestl von Czenstochau) und weiter nach Kocin geritten. Die Division dort in einem primitiven „Schloss“ gefunden, aber Stolberg war schon wieder zurück zum Corps. Vor dem Kociner Schloss standen sechs unserer neuen Minenwerfer, Zwerggeschütze, die auf 800 Meter mörderische Geschosse werfen. Von Kocin an der Grenzlinie unserer Stellungen über Rybno, Kakawa, Radostków, Lubojenka nach Czenstochau zurück. Kakawa grenzt an Mykanów, das noch in russischen Händen ist. Es wurde aber beiderseits nur wenig geschossen. Hinter Radostkow und dann hinter Lubojenka, zwischen Lubojenka und Pustka, wurden grosse Schützengräben ausgehoben mit der Front nach Ost Nord Ost, gegen Mykanów, Koscielec, Rudniki, die noch russisch sind. Der eine Graben durchschneidet das Gefechtsfeld vor Radostków, auf dem neulich so viele Tote lagen, und zieht sich auf die Höhe 256 hinauf, hinter dieser Höhe schwere Artillerie. Unsere ganze Stellung wird hier augenscheinlich äusserst stark doppelt und dreifach befestigt; Artillerie und Stacheldraht müssen die sehr dünn gewordene Infanterie, die unter allerlei Krankheiten leidet, zum Teil ersetzen. Wir sind der Boden des Kessels, in den die Russen von Hindenburg und Mackensen hineingetrieben werden. Hier vor Czenstochau soll sich der letzte Akt der Tragödie abspielen. Welche Bücher trägt der deutsche Soldat im Tornister? Ich habe, so schreibt ein Mitarbeiter der „Kriegslese“, bei mehreren Buchhändlern Münchens angefragt, welche Bücher von den ins Feld gehenden Soldaten am meisten gekauft werden. Es ergab sich eine merkwürdige Uebereinstimmung. Abgesehen von praktischen Büchern, wie Dienstvorschriften, Sprachführern, Kartenwerken waren in überragender Mehrzahl folgende drei Werke verlangt worden: Das Neue Testament, Goethes „Faust“ und Nietzsches „Zarathustra“. Deutsche Helden. Ein Lehrer schreibt uns: Einer meiner frühern Schüler, der in seinem Beruf Anstreichergeselle war und zuletzt als aktiver Soldat bei einem Kölner Pionier-Bataillon stand, schrieb nach der Erstürmung eines Antwerpener Forts an seine Eltern: Ihr Lieben! Wenn Ihr nun einmal die Nachricht erhalten solltet, daß ich nicht mehr am Leben bin, so setzt Euch das nicht in den Kopf, sondern denkt, daß ich für das Vaterland den Heldentod gestorben bin. Wenn Ihr sehen würdet, wie hier alte Männer mit langen Bärten kämpfen, die zu Hause Frauen und Kinder haben, so würdet Ihr selbst sagen, daß wir Aktive vor allen Dingen zuerst stürmen müssen. Deshalb grämt Euch nicht, wenn ich nicht mehr sein sollte. Dieser schlichte Held mit solch sittlicher Auffassung vom Leben ruht nun seit acht Tagen in Belgiens Erde.
27. Nov 1914 Freitag Gnászyn (Kocin)
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Bundesarchiv, Bild 146-2006-0152 / CC-BY-SA (WikimediaCommons)