Vormittags kam von der II Österr. Armee ein Befehl, den sie uns baten, dem heute hier einmarschierenden Corps Gallwitz und unserem eigenen A.O.K zu übermitteln: „Da nach den Nachrichten über den Feind und mit Rücksicht auf die Situation der Gruppe Richthofen eine Fortsetzung des Angriffs im Vergleiche zur gegenwärtigen Lage keine wesentlichen Vorteile bringen würde, so ist der Angriff der Gruppe Fox, sofern er auf wesentliche Schwierigkeiten stossen oder bedeutende Opfer fordern würde, einzustellen ..... “ Ich telephonierte den Befehl zunächst sofort durch an unser eigenes Generalkommando in Ciernewice, wo Gerok, Mutius und Thomsen sich aufhielten. Auf Grund der durch den österr. Beschluss geschaffenen neuen Lage erliess unser G Kommando Nachmittags dann dem A.O.K seine Vorstellung: „Der Entschluss der II österr. Armee, die Offensive ihres linken Flügels vorläufig einzustellen, ist für die weitere Tätigkeit des XXIV RK von unmittelbarer Bedeutung. Die Fortsetzung der Offensive des XXIV RK muss davon abhängig gemacht werden, dass die Bedrohung seiner Flanke vom südlichen Piliza Ufer her beseitigt wird. Dies wurde vom Vorgehen der österr. II Armee erhofft, aber nicht erreicht. Sich den Gegner südlich der Pilica durch eigene Offensive über Leng-Grotowice vom Halse zu schaffen, dazu reichen die Kräfte des Corps nicht aus. Selbst wenn die ganze I GRD hierzu bestimmt würde, erscheint ein Erfolg zweifelhaft .... Das Gen. Kom. sieht nur einen Weg, um die stockende Offensive wieder in Fluss zu bringen: die Bereitstellung starker Kräfte aus kampftüchtigen Truppen nördlich des Piliza Abschnitts Inowlodz-Gapinin zur Offensive gegen den rechten Flügel des südlich stehenden Gegners. Ob diese besonders bereitzustellenden Kräfte der 9 Armee entnommen werden können, oder durch die II österr. Armee bereitzustellen wären, muss höherer Entscheidung vorbehalten bleiben.“ Vom AOK telephonierte daraufhin Kundt, dass ein neuer operativer Gedanke in der Ausarbeitung schon weit vorgeschritten sei und in den nächsten Tagen zu einer Umgruppierung der Streitkräfte führen würde. Ich ritt Nachmittags, da sowohl Kundt wie die II österr. Armee bei mir angefragt hatten, wie die Sache beim Corps Richthofen (HKK 1) und Inowlodz stehe (anscheinend hat das HKK 1 mit Niemandem Verbindung) hinüber nach Spala und in der Richtung auf Inowlodz. In Krolowa Wola traf ich den General Reiswitz an, der mit seiner Brigade den Übergang des Korps Richthofen über die Piliza bei Inowlodz vorbereitet. Er hat heute eine ganze Brigade über die Piliza hinübergeworfen, um den südlichen Brückenkopf zu sichern, während von Westen die Jäger der 5ten Kav. Division herangerückt sind und den Waldrand weiter westlich am Stamianka Bach besetzt haben. Zwischen Reiswitz, d. h. seinem Brückenkopf, und den Jägern lag aber vom Feinde stark besetzt an der Piliza die Höhe 171; um diese ist heute den ganzen Tag gekämpft worden. Während ich nördlich an der Piliza entlang ritt hörte ich das heftige Infanteriefeuer, und um 4 meldete der Oberstleutnant Zenker vom 221ten Inf. Rgt. dass die Höhe genommen und einwandfrei in unserem Besitz sei. Dadurch wird es voraussichtlich morgen möglich werden, dass Reiswitz und die Jäger der 5ten KD sich die Hand reichen und vereint gegen Osten vorrücken, um den Brückenkopf zu erweitern. Reiswitz sagte mir, er sei jetzt zu eng, um erhebliche Truppenmassen hineinzuwerfen, auch stehe der Übergang, vor allem die Brücke, noch immer unter dem konzentrischen Feuer der feindlichen Artillerie. Sie haben auch viel mit Verrat zu kämpfen gehabt und deshalb jetzt die drakonische Massregel durchgeführt, sämtliche Einwohner von Inowlodz nach Tomaszow fortzuschaffen. Trotzdem würden ihre Stellungen und Massregeln noch immer verraten. Reiswitz machte mir den Eindruck, dass er ernstlich bestrebt sei, den Brückenkopf zu halten und in beschränktem Maasse, d. h. im Rahmen einer progressiven Erweiterung des Brückenkopfes, vorwärtszukommen. Er hat 15 Bataillone hierzu zur Verfügung, von denen allerdings 7 Landsturm und die meisten nur 300 Gewehre stark sind, nur drei davon 1000 Gewehre. In Spala informierte ich mich bei dem heute dort eingerückten Korps Richthofen über ihre Absichten. Man sagte mir, dass man allein über die Piliza nicht vorgehen werde, sondern nur im Verein mit südlich der Piliza von Westen vorrückenden Kräften. Auf meinen Einwand, dass diese Kräfte ebenso auf das Vorgehen des Korps Richthofen, wie dieses auf jene warte und dass wir uns also in einem circulus vitiosus bewegten, wurde mir mit grosser Wichtigkeit geantwortet: Nein, das Corps Richthofen sei besser als jene, denn es verlange nicht erst einen Erfolg jener von Westen kommenden Offensive, sondern nur die Zusage einer Offensive überhaupt. Praktisch kommt aber Beides auf dasselbe hinaus, ein Jeder wartet auf den Andren und unsere Offensive ist infolgedessen auf einem toten Punkt angelangt. Es ist, wie wenn zwei überhöfliche Deutsche durch eine Tür durchwollen; schliesslich kommt keiner durch. – Abends Sylvesteressen im schönen Esssaal der Villa Dierichs. Der Weihnachtsbaum wurde angesteckt, und Frau Dierichs hatte den Tisch mit frischem Lorbeer geschmückt und ausserdem einem Jeden einen Glückskopeken und Brot und Salz hingelegt. Sie selbst, diese intelligente, tapfere, hübsche kleine Frau, kam gegen 11, um den Augenblick des Übergangs vom alten ins neue Jahr mit uns zu feiern. Gegen Mitternacht begann in den Strassen eine Knallerei von unseren Leuten, die sich schliesslich zu einem fortdauernden Infanteriefeuer steigerte. Da die Kerle die Kugeln aus den Geschossen genommen hatten, sah man die Flamme jedesmal aus dem Lauf des Gewehres herausblitzen. Gleichzeitig sangen Kolonnen und Landsturmkompagnieen, die hier und dort verstreut lagen, an ihren Feuern etwas angeheitert „Heil dir im Siegerkranz“, „Deutschland, Deutschland über Alles“ und „Die Wacht am Rhein“. Als das Schiessen begann, kam Severin aus seiner Villa eilig zu uns herüber, um uns „zu warnen“: es würde immer lebhafter geschossen in Tomaszow, gewiss sei eine Kosakenpatrouille eingedrungen. Dieses polnische Deutschtum hat nur eine Angst: dass die Russen wiederkommen könnten. Wir sassen bis nach eins mit der kleinen Frau Dierichs zusammen, während die Burschen in der Küche tanzten. – So geht dieses ereignisreichste, weltgeschichtliche Jahr 1914 zu Ende, und mit dem neuen wird, wie es scheint, auch ein neuer Feldzugsabschnitt hier beginnen.
31 Dez. 1914. Donnerstag. Tomaszów.
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Heinrich Schuhmann (sen.), CC-PD-Mark (WikimediaCommons)
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Kommentar
... In den rückwärtigen Laufgräben hatte man später auch noch Gefallene gefunden. Die waren dorthin geflüchtet, in dem schweren Artilleriefeuer verwundet worden und hatten verbluten müssen.
In der Neujahrsnacht hatte die Kompanie Wache im vordersten Schützengraben. Es war wieder einmal so ein rechtes Sauwetter. Schon tagelang fast ununterbrochen Schnee und Regen. Die Franzosen waren lebhafter geworden, schossen viel mehr mit schweren Granaten und schweren Minen.
Es war erhöhte Alarmbereitschaft befohlen, man befürchtete einen französischen Angriff. Da hieß es aufgepaßt, es war ja nur ein Sprung von der feindlichen Stellung in unseren Schützengraben.
Es durfte nicht wieder vorkommen, dass den Franzosen eine Überrumpelung gelang, wie am 28. Dezember bei der Kompanie.
In der Neujahrsnacht vorn im Schützengraben!
Nass bis auf die Haut, der Mantel eine einzige Lehmschmiere, bis auf die Stiefelschäfte stand man im Schlamm. Kein warmes Essen. Wie wohl hätte ein Glas Glühwein getan, den man sonst in der Neujahrsnacht in der Heimat getrunken hätte.
Manche dachten zurück in die Heimat an Frau und Kinder, an die Angehörigen oder an seine Braut, die wohl auch seiner mit Sehnsucht gedachte und den Verlobten heute Nacht erwartet hätte, wenn es nicht Krieg gewesen wäre. -
Die Franzosen griffen nicht an.
Aus dem Kriegstagebuch des Karl Steinebach aus Flörsheim am Main