Die Geschichte der Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht neu und geht in etwa so: vor allem West-Deutschland brauchte nach den hohen Verlusten an Menschen und Material viele neue Arbeitskräfte, um das Land neu aufzubauen, und griff dabei auf das große Arbeitslosenreservoir im Süden Europas zurück. Den bilateralen Anwerbeabkommen folgten Millionen von sogenannten Gastarbeitern aus Italien, Jugoslawien, Spanien, Griechenland und der Türkei, die nach Deutschland, Frankreich und in die Benelux-Staaten auswanderten. So das gängige Narrativ. Die Wirtschaftshistorikerin Prof. Dr. Heike Knortz von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe hat Zweifel an dieser Erzählung und eine andere Geschichte der europäischen Migration und Integration nach 1945 geschrieben. Wir haben Sie dazu befragt.
"Deutschland insgesamt verfügte über einen Bevölkerungsüberschuss"
L.I.S.A.: Frau Professor Knortz, Sie haben eine neue Studie vorgelegt, die Migrations- und Wirtschaftsgeschichte miteinander verflechtet, und kommen dabei zu neuen Erkenntnissen, die bisherige Gewissheiten ins Wanken bringen. Ihr Buch heißt "Gastarbeiter für Europa. Die Wirtschaftsgeschichte der frühen europäischen Migration und Integration". Darin stellen Sie die These auf, dass die erste Welle der sogenannten Gastarbeitermigration seit 1945 weniger aufgrund eines Arbeitskräftemangels in den Zielländern, sondern vielmehr aufgrund eines Arbeitskräfteüberschusses in den Herkunftsländern erfolgt sei. Das überrascht, würde man doch vermuten, dass gerade in Deutschland infolge der hohen Kriegsverluste und der zahlreichen Kriegsgefangenen Arbeitskräfte händeringend gesucht worden seien, oder?
Prof. Knortz: Ihre Frage impliziert ein Bild (West-)Deutschlands, das wir zunächst alle aus dem Geschichtsunterricht kennen: 1945 noch Stunde Null, hohe Kriegsverluste an Menschen und Material, darniederliegende Ökonomie. Drei Jahre später, mit der Einführung der D-Mark und der sozialen Marktwirtschaft, füllen sich die Schaufenster und in den 1950er-Jahren verfestigt sich der positive Trend, so dass jetzt schon ausländische Arbeitskräfte angeworben werden müssen.
Wirtschaftshistoriker wissen demgegenüber, dass sich die Wirtschaft Westdeutschlands zunächst sehr instabil und krisenhaft entwickelte. Dazu mussten 9,6 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen und versorgt werden. Erst infolge des Koreakriegs erlebte Westdeutschland dann seit spätestens 1952 einen lang anhaltenden konjunkturellen Aufschwung, und trotzdem war erst 1959 tatsächlich Vollbeschäftigung erreicht. Vollbeschäftigung allerdings im Rahmen eines Produktionsregimes, das sehr stark auf die Arbeitskraft setzte anstatt auf den Einsatz von Kapital. Die Arbeitgeberverbände waren deshalb zu dieser Zeit selbst noch davon überzeugt, dass die Industrie eventuellen künftigen Arbeitsmarktengpässen durch technisch-organisatorische Rationalisierungen begegnen könne. Früh vollzog sich solches im Steinkohlebergbau, wo zahlreiche Bergarbeiter infolge von Rationalisierungsmaßnahmen schon zu Ende der 1950er Jahre ihre Beschäftigung verloren. Von einer Beschäftigung zusätzlicher, also ausländischer Arbeitskräfte wollten insofern weder Arbeitgeber noch Gewerkschaften zu dieser frühen Zeit etwas wissen. Diese ablehnende Haltung hatte ihren Grund natürlich auch darin, dass bis zum Mauerbau im Jahr 1961 insgesamt 2,7 Mio. Personen aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelten. Zusammen mit Flüchtlingen aus anderen Ostblockstaaten nahm die Bundesrepublik so jährlich bis zu 150.000 Personen, die meisten von ihnen im erwerbsfähigen Alter und gut ausgebildet, auf. Frühe Statistiken der Vorgängerin der OECD, der Organization for European Economic Cooperation, bestätigen: Deutschland insgesamt verfügte über einen Bevölkerungsüberschuss.
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