Vor ziemlich genau 36 Jahren, am 12. September 1980, putschte in der Türkei das Militär - anders als im Juli dieses Jahres mit Erfolg. Oppositionelle Kräfte des Landes waren fortan willkürlichen Verhaftungen, politischen Schauprozessen, Folter und Hinrichtungen ausgesetzt. Obwohl die massiven Menschenrechtsverletzungen des NATO-Partners Türkei weithin bekannt waren, herrschte in Politik und Medien der Bundesrepublik überwiegend Verständnis für das Vorgehen der Putschisten. Wie war das möglich? Auf welcher Basis konnte sich eine demokratisch legitimierte Regierung mit einer offenen Diktatur politisch arrangieren? Der Historiker Dr. Tim Szatkowski vom Institut für Zeitgeschichte hat sich in seiner Studie Die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei 1978 bis 1983 mit diesen Fragen und vielen anderen Politikfeldern beschäftigt, die nicht nur damals, sondern bis heute die Beziehungen der Bundesrepublik mit der Türkei betreffen.
"Die Sperrfrist für amtliches Schriftgut von dreißig Jahren gilt für sie nicht mehr"
L.I.S.A.: Herr Dr. Szatkowski, Sie haben eine Studie mit dem Titel „Die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei 1978 bis 1983“ vorgelegt. Bei der Lektüre Ihrer Arbeit, die einen besonderen und eher kurzen Zeitraum der (west-)deutsch-türkischen Beziehungen behandelt, kommen einem unweigerlich Parallelen zur aktuellen Konstellation in den Sinn: die Südostflanke der NATO, der Umgang mit einem autoritären Regime, die Einbettung des bilateralen Verhältnisses im Kontext der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union, die Migration aus der Türkei nach Deutschland, Status und Milieubildung der türkischstämmigen Bevölkerung in der Türkei, das Thema „Islam in Deutschland“ usw. Was hat Sie bewogen, diese Studie anzugehen? Welche Kernfrage leitete Sie dabei?
Dr. Szatkowski: Als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Edition der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“, die das Institut für Zeitgeschichte im Auftrag des Auswärtigen Amts herausgibt, ist mir in meiner täglichen Arbeit immer wieder aufgefallen, dass im Politischen Archiv des Außenministeriums eine beträchtliche Zahl an Akten zu dem Thema lagert, die gut erschlossen sind und nur auf eine Auswertung warten. Dokumente, die bis Mitte der 1980er Jahre reichen und früher nicht als Verschlusssache deklariert waren, sind heute frei zugänglich; die Sperrfrist für amtliches Schriftgut von dreißig Jahren gilt für sie nicht mehr. Selbst zahllose Verschlusssachen, also Aktenstücke, die früher als „vertraulich“ oder „geheim“ klassifiziert waren, sind heute einsehbar; viele wurden für die Aktenedition herabgestuft und damit offengelegt.
Auf dieser Quellenbasis – es handelt sich um mehr als 200 Akten für den Untersuchungszeitraum – ist es leicht möglich, eine Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen zu schreiben. Die Geschichtswissenschaft hat sich den Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten schon recht intensiv angenommen. Besonders gut erforscht sind sie für die Zeit des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs sowie für die 1950er und 1960er Jahre. Auch für die 1970er und 1980er Jahre kann der Leser auf einige wenige Publikationen zurückgreifen, die aber naturgemäß kaum Primärquellen zur Grundlage haben. Diese Lücke soll meine Publikation schließen helfen.
Die außen- und sicherheitspolitischen, innenpolitischen und gesellschaftlichen Implikationen des Themas liegen auf der Hand; Sie haben sie selbst erwähnt. In der Außenpolitik der „alten“ Bundesrepublik hatten die deutsch-türkischen Beziehungen sicher keinen so herausragenden Stellenwert wie die deutsch-amerikanischen und die deutsch-französischen, wohl aber einen hohen Stellenwert. Die Arbeit auf einen vergleichsweise kurzen Zeitraum zu beschränken, war sinnvoll, weil gerade die Militärherrschaft von 1980 bis 1983 einen Einschnitt in der türkischen Geschichte bedeutete. Das Militär versuchte damals, das politische und gesellschaftliche Leben auf eine neue Grundlage zu stellen, was frühere Militärinterventionen zumindest in dieser Form nicht intendiert (und schon gar nicht bewirkt) hatten. Natürlich ist es unerlässlich, auch die Vorgeschichte zu kennen; deshalb bezieht meine Arbeit das letzte Drittel der 1970er Jahre in die Untersuchung mit ein. Die Kernfrage ist die nach dem Verhältnis von Realpolitik und Menschenrechtspolitik. Ohne Zweifel kann keine Politik nur auf Menschenrechtserwägungen beruhen; alle Politik ist mehr oder weniger immer auch – und meist ganz überwiegend – Realpolitik. Doch im Falle einer Militärherrschaft, zumal einer solchen wie in der Türkei im ersten Drittel der 1980er Jahre, kann Politik zweifellos kaum nur als Realpolitik betrieben werden. Der öffentliche und politische Druck, die Frage der Menschenrechte stärker einzubeziehen, nahm auch im Falle der Türkeipolitik der Bundesregierungen unter den Kanzlern Helmut Schmidt und Helmut Kohl deutlich zu. Für mich stellte sich die Frage, ob es ihnen gelang, realpolitische und menschenrechtliche Interessen miteinander in Einklang zu bringen, oder ob sich die Waagschale dann doch zu einer Seite neigte.