Das Projekt „Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland“ versucht eine repräsentative Bestandsaufnahme von Sachzeugnissen und Quellen zur vorreformatorischen Alltagsfrömmigkeit zu leisten, die in einer gemeinsamen Ausstellung der Mühlhäuser Museen, des Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig und des Kulturhistorischen Museums Magdeburg von September 2013 bis September 2014 präsentiert werden.
Leipziger Wunderzeichen von 1517
Entdeckung in der Nordhäuser Himmelgartenbibliothek
Bei dieser Unternehmung ist auch eine bisher wenig beachtete Kirchenbibliothek in den Blick geraten. Sie gehört der evangelischen Kirchgemeinde in Nordhausen. Da ihr umfänglicher Grundstock aus dem ehemaligen Servitenkloster Himmelgarten bei Nordhausen stammt, wird sie als „Himmelgartenbibliothek“ bezeichnet. Diese Klosterbibliothek entstand in den drei Jahrzehnten vor dem Beginn der Reformation und umfasst ca. 600 Drucke, die in ca. 330 zeitgenössischen Bänden eingebunden sind. Für den Aufbau dieser Bibliothek war vor allem der letzte Prior des Klosters, Johannes Huter (Pilearius), verantwortlich. Huters enge Verbindungen zur Universität Erfurt spiegeln sich in dem Bestand deutlich wieder, der vor allem Werke enthält, die im Kontext des Erfurter Humanismus entstanden oder rezipiert wurden. Noch bevor das Kloster im Bauernkrieg zerstört wurde, rette man die Bücher nach Nordhausen.
Da sich der Servitenkonvent wenig später auflöste, gelangten die Bücher in die Pfarrkirche Sankt Blasii, wo sie als Kirchenbibliothek weiter genutzt wurden. Durch die Aufbewahrung in der Sakristei der Kirche verschlechterte sich der Zustand der Bücher im Laufe des 20. Jahrhunderts in einen solchen Maße, dass sie zunächst 1973 als Depositum in die Bibliothek des Katechetischen Oberseminars Naumburg und von dort 1989 in die Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars in Wittenberg überführt wurden. Voraussichtlich 2014 soll die Bibliothek in die ehemalige Freie Reichsstadt im Südharz zurückkehren, wo sie im Neubau der „KulturBibliothek“ als Eigentum der Kirchgemeinde aber betreut durch das Stadtarchiv einen neuen Ort erhalten soll.
Im Zusammenhang der Bestandserfassung für den Rücktransport tauchte im September 2011 überraschend ein bisher nicht katalogisierter Band mit dem zweiten Teil der 1504 in Basel gedruckten Werkausgabe des Johannes Chrysostomus auf. Auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels ist ein illustrierter Einblattdruck eingeklebt, der nach den verwendeten Typen in der Offizin von Matthias Maler (Erfurt) hergestellt wurde. Das Blatt berichtet von einer Erscheinung am nächtlichen Himmel, die am 25. Juni 1517 von sechs Bauern aus Kleinpösna bzw. Hirschfeld (heute im südöstlichen Stadtgebiet Leipzigs gelegen) gesehen wurde. Sie sahen am Firmament bildhafte Erscheinungen: Landsknechte, einen Mann, der einem Wolf aus seinem Kelch zu trinken gab, einen Löwen, den drei Wölfe angriffen, einen Mann mit einer Posaune, zwei Männer, die Kinder „frassen“, vier Gestalten, die den schlafenden Jüngern Christi am Ölberg glichen, einen gekrönten Mann, vor dem eine Jungfrau bittend auf die Knie fiel, die Gestalt eines Priesters, der die Hände ausstreckte, eine zweite priesterliche Gestalt, die von einem Mann mit einem großem Straußenfederhelm begleitet wurde und schließlich einen alten gekrönten Mann, nach dessen Auftritt sich die Erscheinung auflöste. Das Blatt schließt mit der namentlichen Nennung der Bauern sowie der lateinischen Versicherung, der Propst des Thomasklosters habe das Berichtete von den genannten Personen unter Eid in Erfahrung gebracht.
Die Historizität des Ereignisses wird durch eine parallele Nachricht bestätigt, die sich in der Materialsammlung des Leipziger Kanonikers Georg Horn von Seßlach für die Annalen des Thomasklosters findet. Bei der beobachteten Erscheinung wird es sich wahrscheinlich um ein Polarlicht gehandelt haben.
Dieser bisher unbekannte Einblattdruck steht am Beginn einer im 16. Jahrhundert blühenden Produktion von Flugschriften über Polarlicht- und Haloerscheinungen. Etwa 300 verschiedene Drucke zu diesem Thema sind bis zum Jahr 1600 bekannt. Diese Himmelserscheinungen wurden besonders im lutherischen Milieu als Wunderzeichen Gottes mit Interesse beobachtet. Bisher galt eine im Januar 1520 über Wien wahrgenommene Haloerscheinung, die in mindestens neun verschiedenen Drucken auch im Hinblick auf die „Luthersache“ und den Regierungsantritt Karls V. thematisiert wurde, als ältestes einschlägiges Druckereignis, das auch im Kreis der Wittenberger Reformatoren diskutiert wurde. Ein Einblattdruck zu diesem Ereignis aus der Feder Sebastian Brants gehörte auch zum Bestand der Himmelgartenbibliothek. Leider ist dieser in der Forschung bisher unbekannte Druck inzwischen verschollen.
Auch wenn der Einblattdruck erstmals ein Polarlicht thematisiert, gehört er in den publizistischen Zusammenhang von Wunderzeichendeutungen, wie sie seit den 90er Jahren des 15. Jahrhunderts im humanistischen Milieu verbreitet waren. Für dieses Phänomen steht im besonderen Maße die Wunderzeichenpublizistik Sebastian Brants, der seit seinen Deutungen des 1492 bei Ensisheim niedergegangenen Meteoriten („Donnerstein“) und der Geburt von siamesischen Zwillingen am Rande des Wormser Reichstages 1495 als Kapazität auf dem Gebiet der Wunderdeutung galt.
Das humanistische Interesse an der Wunderzeichenpublizistik belegt auch die Himmelgarten-Bibliothek, denn in ihr finden sich neben dem beschriebenen Blatt noch weitere Einblattdrucke, von denen ca. zwei Drittel wunderbare Erscheinungen, vor allem Missgeburten, thematisieren. Der aktuelle Neufund verweist so auch darauf, dass sich in den um 1500 weit verbreiteten Wunderzeichen-Drucken nicht eine überbordende mittelalterliche ‚Volksfrömmigkeit‘ ausspricht, sondern nicht zuletzt das humanistische Interesse an einer Welt Gottes, in der nichts umsonst geschieht.
Ein Essay, der den neu gefundenen Einblattdruck im Kontext von Humanismus, reformatorischer Neuorientierung und lutherischer Publizistik vorstellt, erschien jüngst in den Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft Nr. 16: James M. Stayer - Hartmut Kühne: Endzeiterwartung bei Thomas Müntzer und im frühen Luthertum. Zwei Beiträge, Mühlhausen 2011. Die Thomas-Müntzer-Gesellschaft hat freundlicherweise ihr Einverständnis zur online-Publikation des Beitrags erteilt.