Der Leipziger Bach-Forscher PD Dr. Peter Wollny hat im April 2013 im Schütz-Haus Weißenfels eine bisher unbekannte Handschrift von Johann Sebastian Bach (1685–1750) entdeckt. Im Rahmen des vom Bach-Archiv Leipzig durchgeführten und von der Gerda Henkel Stiftung finanzierten Quellenerschließungsprojektes "Johann Sebastian Bachs Thomaner" gelang Wollny die Identifizierung einer um 1740 entstandenen Abschrift einer Messe des italienischen Komponisten Francesco Gasparini (1661–1727). Das neuaufgefundene Autograph bietet wesentliche Einblicke in Bachs Beschäftigung mit dem sogenannten Stile antico und hilft, die stilistische Neuorientierung seines Schaffens in seinem letzten Lebensjahrzehnt zu verstehen. Die Quelle enthält eindeutige Indizien dafür, dass Bach Gasparinis Werk in den beiden Leipziger Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai mehrfach aufgeführt hat.
Francesco Gasparini wirkte als Komponist und Pädagoge in Rom, Bologna und Venedig und schuf zahlreiche von seinen Zeitgenossen hoch geschätzte Opern, Kammerkantaten und Kirchenstücke. Als eines seiner berühmtesten Werke gilt die 1705 in Venedig entstandene »Missa canonica« für vierstimmigen Chor und Basso continuo. Sämtliche Sätze der Messe enthalten kunstvolle Kanons und bezeugen die überragende satztechnische Meisterschaft des Komponisten. Von diesem Werk ist nun in Weißenfels eine Abschrift von der Hand Johann Sebastian Bachs aufgetaucht. Die Überlieferung der Quelle ist vermutlich dem Sammeleifer des Bach-Thomaners und späteren Weißenfelser Kantors Carl Ludwig Traugott Gläser (1747–1797) zu verdanken, der in seiner Zeit als Alumne der Leipziger Thomasschule und anschließend als Student der dortigen Universität im Blick auf seine angestrebte Kantorenlaufbahn den Grundstock für seine Musikaliensammlung legte. Neben der Bach-Handschrift erwarb er auch zahlreiche andere Manuskripte von Leipziger Musikern.
Die Weißenfelser Handschrift umfasst insgesamt 13 Stimmhefte (4 Singstimmen, 4 Stimmen für Streicher und Oboen, 4 Stimmen für Zink und Posaunen sowie eine Orgelstimme). Der Stimmensatz belegt, dass Bach die reine Vokalbesetzung des Originals gemäß der in Leipzig üblichen Praxis um Streich- und Blasinstrumente erweiterte und sich bei seiner Aufführung auf die Teile Kyrie und Gloria beschränkte. Bei der Ausfertigung der Stimmen bediente er sich der Unterstützung durch einen bislang unbekannten Kopisten; vermutlich handelte es sich hierbei um einen der älteren Thomaner.
Bach verwendete für seine Abschrift das gleiche Papier wie für den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Dieser Befund sowie spezifische schriftkundliche Merkmale erlauben eine Datierung auf die Zeit um 1740. Spätere Zusätze beweisen, dass Bach das Werk ausgiebig studiert und wiederholt in den beiden Leipziger Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai aufgeführt hat. Die verschiedenen, offenbar abwechselnd eingesetzten Instrumentalgruppen bezeugen sein Bemühen um eine wirkungsvolle klangliche Realisierung des komplexen kontrapunktischen Gewebes.
Die Bedeutung des Quellenfundes ist kaum zu überschätzen. Um 1740 – zu Beginn seines letzten Lebensjahrzehnts – entwickelte Bach einen neuen Kompositionsstil, der sich durch die verstärkte Verwendung der polyphonen Satztechnik, durch eine Vorliebe für die intrikate Setzkunst des Kanons und schließlich durch einen ausgesprochenen Pluralismus der Stile auszeichnet. In dieser Phase der Neuorientierung setzte Bach sich intensiv mit Werken anderer Meister auseinander, in denen die genannten Tendenzen besonders deutlich zutage traten. Die Missa canonica von Francesco Gasparini erscheint somit als ein aufschlussreiches Vorbild für die Kanonkunst und strenge Polyphonie in Bachs Spätwerk, wie sie uns etwa im Musikalischen Opfer, in der Kunst der Fuge und in der h-Moll-Messe begegnet.