L.I.S.A.: Hierzulande stehen bis zum Ende des Jahre wieder einige wiederkehrende Bräuche und Rituale an – Sankt Martin, Karnevalsauftakt, Nikolaus, Weihnachten und Silvester. Woran liegt es, dass sich diese aufgezählten Ereignisse dauerhaft halten und Jahr für Jahr wiederkehren? Es gab doch in der Vergangenheit sicherlich noch mehr typische Jahrestage, die aber nach und nach verschwunden sind. Was ist also entscheidend dafür, dass ein bestimmtes Ereignis zu einem Brauch oder Ritual wird?
Prof. Bendix: St. Martin hat sich mit Nichten dauerhaft gehalten. In Südniedersachsen, wo ich lebe, gibt es eigentlich ein stetes Tauziehen zwischen dem Import-Brauch Halloween und St. Martin. Kinder lösen dies am Besten und nutzen kurzerhand sowohl den 31.10. wie auch den 11.11., um sich in der Nachbarschaft Süßigkeiten zu erbetteln – einmal kostümiert im Halloween-Kostümrepertoire und einmal mit dem St.Martinslied um Gaben heischend. Noch 2003 hat kaum ein Kind den Liedtext gekannt, in den letzten 3-4 Jahren wird das wieder eingeübt, denn es gibt hier durchaus auch einen kleinen Kulturkampf: das „Einheimische“ soll wieder besser Wurzeln fassen, in den Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende war St. Martin hier aber eher verschwunden und aus der Quellenlage heraus kann man argumentieren, dass St. Martin v.a. erstarkt ist, weil manche sich ob des kommerziellen Imperialismus von Halloween stören. In diesem Jahr kommt eine zusätzliche Lenkung dazu: im Sinne der gesellschaftlichen „Inklusionsdebatte“ wird von manchen Politikern argumentiert, dass der Martinstag Kinder muslimischen Glaubens ausschließe, was wiederum seitens des Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime dementiert wurde, der den Lebenswandel des historischen St. Martins als geradezu vorbildlich charakterisiert.
Kurzum: man kann nicht pauschal annehmen, dass Bräuche Jahr für Jahr wiederkehren würden, es braucht immer Menschen und Gruppen, die sie auch feiern möchten. Bei Jahreslauf Ereignissen wie Weihnachten oder Ostern hat sich dies natürlich durch deren tiefe Einbettung in den Markt zusätzlich verfestigt. Für den Handel wäre es eine Katastrophe, wenn das Weihnachtsgeschäft nicht mehr bestünde! Trotz zunehmender Säkularisierung und schwindendem Kirchenbesuch fühlen sich wohl manche Bürger nicht nur wegen des familiär erwarteten Geschenkaustauschs zum Einkauf verpflichtet, sondern auch, weil sie über die Medien ja informiert werden, ob der Weihnachtsverkauf denn gut angelaufen ist.
Im Hier und Jetzt muss entsprechend die wirtschaftliche Dimension – das „Ritualgeschäft“ sozusagen – in die Analyse von zyklischen Festereignissen mit einbezogen werden. Denken Sie z.B. an die vielen Sommer-Karnevale, die in den letzten 20-30 Jahren eingeführt wurden: dies sind dezidierte Anreize an uns alle, in der warmen Jahreszeit zu feiern und damit auch zu konsumieren. Der sich aus sakralen Terminsetzungen ableitende Karneval oder Fasching liegt ja in einer konsumtechnisch gesprochen weit weniger günstigen, kalten Jahreszeit.
Neben Mega-Ereignissen wie Weihnachten oder Karneval können wir aber viele Jahreslaufereignisse beobachten, die eingeführt werden, Hochzeiten durchleben, und danach vielleicht auch wieder abflauen. In Hann. Münden z.B. wurde in diesem Jahr das Rosenfest zum Mündener Altstadtfest umbenannt, denn engagierte Bürger hatten ein Abflauen des Interesses im Ort wahrgenommen; so wurde auch keine Rosenfee mehr gewählt und damit begonnen, eine dynamische Festverwandlung zu unternehmen. Heißt: hier möchte man dem „Brauch“ nicht ausgeliefert sein, die Feste nicht so feiern, wie sie fallen, sondern Feste haben, die auch denjenigen, die in einer mobilen Gegenwartsgesellschaft in diesem Ort leben, Freude bereiten.
Entsprechend: ich möchte dem Bild der „nach und nach verschwindenden“ Bräuche das Bild von Gemeinschaften und Interessensgruppen gegenüberstellen, die sich heute bisweilen auch aktiv mit Hergebrachtem auseinandersetzen, die Manches abstauben, wie eben etwa den St. Martin, oder aber abschütteln oder auch ganz einfach aus Kostengründen einstellen. Letzteres ist der Fall mit vielen Dorfkirmes und Schützenfesten, welche manche Ortschaften reduzieren, abkürzen oder einstellen – weil bisweilen der Schützenverein auch stark geschrumpft ist, dafür aber vielleicht ganz andere, einer Gegenwart und ihren Interessen entsprechende Trägergruppen Jahreslaufereignisse einführen. Denn: Jahreslaufereignisse können auch eine enorme Bürde darstellen. Wenn Menschen nicht mit Leib und Seele drin stecken und dafür fiebern, wie das sicher bei vielen Karnevalisten der Fall ist, dann lohnt es auch nicht ,wenn WissenschaftlerInnen daher kommen und das Verschwinden von Bräuchen konstatieren. Die interessante Frage ist dann eher, nachzuvollziehen, was sich verändert hat in einer Gemeinschaft, um die Trägerschaft eines Brauchs zu erodieren. Umgekehrt gibt es Bräuche, wie etwa das Treppenfegen und Klinkenputzen zum 30. Geburtstag, das nicht weiter als zu den 1950er Jahre zurückgeht, und in welchem sich die Lust in einer Wohlstandsgesellschaft die jungen Jahrzehnte bereits groß zu feiern bestens abbildet.