Spätestens mit den Büchern von Christopher Clark und Herfried Münkler zum Ersten Weltkrieg hat sich in Deutschland die Deutung der Ursachen und Gründe für den Kriegsbeginn verschoben. Der Historiker Fritz Fischer hatte in seinen Arbeiten der 1960er Jahren dem Deutschen Reich eine Hauptverantwortung zugesprochen. Heute gelten seine Thesen in den Augen der Rezipienten von Clarks und Münklers Büchern als überholt und falsch. Alle beteiligten Großmächte seien Schuld gewesen, dem Deutschen Reich komme keine besondere Verantwortung zu, so deren Sicht. Dr. Annika Mombauer, Senior Lecturer an der Open University in Milton Keynes (Großbritannien), hält dagegen und spricht Berlin und Wien eine Schlüsselrolle in der Julikrise 1914 zu. Wir haben sie dazu befragt.
"Wien und Berlin haben einen europäischen Krieg in Kauf genommen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Mombauer, Sie haben sich intensiv mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschäftigt und dazu jüngst unter anderem das Buch „Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg“ geschrieben. War der Erste Weltkrieg vermeidbar? Was hätte passieren müssen, um den Gang in die Katastrophe zu vermeiden?
Dr. Mombauer: Das sind natürlich Riesenfragen, und sie gehen direkt an der Kern der Sache: um beurteilen zu können, ob der Erste Weltkrieg vermeidbar war, muss man die ‚Kriegsschuldfrage‘ stellen. Um es zunächst mal ganz klar zu sagen: ja, der Weltkrieg war 1914 vermeidbar. Er musste so nicht zwangsläufig ausbrechen, man hätte im Juli 1914 eine friedliche Lösung für die letzte große internationale Krise der europäischen Diplomatie finden können. Und es gab in der Tat genügend Versuche, diesen Krieg zu vermeiden. So wollte z.B. der britische Staatssekretär Sir Edward Grey den Streit zwischen Österreich-Ungarn und Serbien mit einer internationalen Konferenz beilegen, und hat dies in der Julikrise mehrmals vorgeschlagen. Auf diese Weise hatte man zuvor schon manche europäische Krise beigelegt. Aber das ‚internationale Konzert Europas‘ konnte nur dann funktionieren, wenn eben alle daran interessiert waren, diesen Krieg zu vermeiden. Und das war leider 1914 nicht der Fall. Wäre man in Wien und in Berlin vor einem Krieg noch einmal zurückgeschreckt, wäre aus der Krise kein Weltkrieg geworden. Dort aber wurde in den ersten Julitagen die Entscheidung getroffen, einen Krieg im Balkan vom Zaun zu brechen, welcher – so nahm man in Kauf – sehr wahrscheinlich in einen europäischen Krieg ausarten würde. Die Möglichkeit einer diplomatischen Beilegung der durch die Ermordung Franz Ferdinands ausgelösten Krise erschien den Entscheidungsträgern in Wien zum Beispiel keineswegs erstrebenswert; man empfand die Vorstellung als ‚odiös‘. Das Risiko eines europäischen Krieges war man bereit in Kauf zu nehmen. In den anderen Regierungen konnte man auf diese Entscheidung nur reagieren, nicht aber die Krise wirklich beeinflussen.