Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist mit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre wieder auf die Agenda der Weltgemeinschaft gekommen. Seine historischen Konjunkturen hatte es zuvor nach dem Ersten Weltkrieg, als sich vor allem die europäische politische Landkarte veränderte, und dann noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der weltweiten Entkolonialisierung. Heute sind es in Europa insbesondere die Menschen und Völker östlich des früheren Eisernen Vorhangs, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen, wodurch sich die europäische Staatenlandschaft seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrmals neu geordnet hat. Jüngst ist das Recht auf Selbstbestimmung im Zuge des Krimkonflikts zwischen Russland und der Ukraine reklamiert worden. Zu Recht? Wir haben dem Historiker und Völkerrechtsexperten Prof. Dr. Jörg Fisch unsere Fragen gestellt.
"Wer hat nun Recht? Keine von beiden Seiten"
L.I.S.A.: Herr Professor Fisch, Sie haben sich in Ihrer Forschungsarbeit intensiv mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker befasst und dazu unter anderem einen Band in der Reihe „Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung“ publiziert. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist aktuell im Zusammenhang mit der Krimkrise wieder auf der Tagesordnung. Russland beruft sich mit Blick auf das Referendum darauf, der Westen lehnt diese Argumentation ab. Wer liegt da richtig?
Prof. Fisch: Das Besondere am Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es sich in den letzten ca. 250 Jahren herausgebildet hat, liegt darin, dass niemand völlig richtig liegt, und liegen kann, und niemand gänzlich falsch. Spätestens seit 1976, als die beiden internationalen Menschenrechtspakte von 1966 in Kraft traten, besteht ein uneingeschränktes Selbstbestimmungsrecht aller Völker. Dabei ist nie international verbindlich definiert worden, was ein Volk ist. Man hat diese Definition nicht vergessen, sondern man hat sie nicht gewollt und will sie auch heute nicht, damit die Staaten jeweils ad hoc bestimmen können, wen sie als Volk (und damit als selbstbestimmungs-berechtigt) behandeln wollen und wen nicht. Das heißt aber rechtlich gesehen, dass sich jedes Kollektiv, das sich selber als Volk versteht, auch als solches bezeichnen und ein Selbstbestimmungsrecht beanspruchen darf – dem steht ja keine verbindlich geltende Definition, die das verbieten würde, entgegen. Eine ganz andere Frage ist, wie ein solches Recht dann zu verwirklichen ist.
Dem steht entgegen, dass in der UNO-Satzung ein Recht aller Staaten auf territoriale Integrität und Unversehrtheit verankert ist. Das schließt die Loslösung eines Gebietsteils gegen den Willen des Gesamtstaates aus. Wer hat nun Recht? Keine von beiden Seiten. Das war und ist, wenn auch uneingestandenermaßen, durchaus die Absicht der Beteiligten: Letztlich entscheiden die einflussreichen und mächtigen Staaten darüber, welches Recht in einem konkreten Fall höher steht.
Wer kann sich nun auf ein Selbstbestimmungsrecht berufen? Rechtlich gesehen ist die Sache, wie gesagt, relativ einfach. Historisch gesehen ist es anders. In der intensivsten Phase der Entkolonisierung, etwa vom Zweiten Weltkrieg bis 1975, hat man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass in aller Regel nur ehemalige Kolonialgebiete in den Genuss des Rechts kommen würden, also Gebiete, die jenseits eines Ozeans oder einer großen Landmasse liegen. Das hat sich seit 1989 geändert. Nun wurden auch andere Staaten zu möglichen Kandidaten für eine Zerlegung in zwei oder mehrere Teile gegen ihren Willen. Die Zahl möglicher Kandidaten für ein Selbstbestimmungsrecht nahm also stark zu. Der Wunsch der Bevölkerung der Krim nach Eigenstaatlichkeit ist weder illegal noch illegitim. Aber es kommt darauf an, wie ein solcher Wunsch verwirklicht wird.