In der aktuellen Berichterstattung erfährt man wenig über die historischen Hintergründe der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine beziehungsweise zwischen Russen und Ukrainern. Stereotype Zuschreibungen bestimmen die Einordnung des gegenwärtigen Konflikts. Der Osteuropahistoriker Prof. Dr. Andreas Kappeler vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien hat sich in seiner Forschungsarbeit intensiv mit der Geschichte beider Nationen und beider Staaten beschäftigt. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Für viele Russen sind die Ukrainer Teile einer slawischen all-russischen Nation"
L.I.S.A.: Herr Professor Kappeler, als Osteuropahistoriker haben Sie sich vor allem mit der Geschichte Russlands und der Geschichte der Ukraine beschäftigt. Überrascht sie der aktuelle Konflikt zwischen Russland und der Ukraine? Wir würden Sie aus historischer Perspektive das Verhältnis zwischen beiden Ländern bezeichnen?
Prof. Kappeler: Der aktuelle Konflikt überrascht mich nicht grundsätzlich, wohl aber sein Ausmaß und die Aggressivität der Politik Russlands. Konfliktpotential gab es seit dem Dezember 1991, als die beiden Staaten unabhängig wurden. In diesem Jahr versetzten übrigens die Präsidenten der beiden Länder, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, gemeinsam der Sowjetunion den Todesstoß. Man stritt unter anderem über die Aufteilung der Schwarzmeerflotte und der sowjetischen Atomwaffen. Im Jahre 1997 konnten die wichtigsten Fragen in einem Freundschaftsabkommen geschlichtet werden, in dem sich beide jungen Staaten die territoriale Integrität garantierten. Neue Konflikte brachte die Orange Revolution von 2006/7, die von Russland mit großem Misstrauen betrachtet wurde. Präsident Putin blamierte sich schwer, als er nach der gefälschten Präsidentenwahl Viktor Janukowytsch zu seinem Sieg gratulierte. Das Verhältnis zu dem in einer neuen Runde gewählten Präsidenten Viktor Juschtschenko, der eine klare Westorientierung einschlug, war deshalb von Anfang an schlecht. Juschtschenko äußerte schon 2008, als Russland in Georgien einmarschierte, die Befürchtung, dass die Ukraine das nächste Opfer sein könnte. So war der Sieg von Janukowytsch in der folgenden Präsidentenwahl von 2010 nicht nur für den Gewählten, sondern auch für Putin eine gelungene Revanche. Jetzt schienen sich die Beziehungen wieder zu normalisieren, bis die Majdan-Revolution zur Absetzung von Janukowytsch und zu einem erneuten Kurswechsel der Ukraine führte.
Grundsätzlich haben sich die russische Führung und weite Teile der russischen Gesellschaft nicht damit abgefunden, dass ihnen ein unabhängiger Staat gegenübersteht, der auf Gleichberechtigung pocht. In den Augen vieler Russen waren und sind die Ukrainer Teile einer slawischen all-russischen Nation, die in der Zarenzeit aus Groß-, Weiß- und Kleinrussen bestand. Vladimir Putin hat selbst mehrfach betont, dass die Russen und Ukrainer ein Volk seien. Ihr Staat wird als künstlich und provisorisch, ihre Sprache als russischer Dialekt, ihre Kultur als zweitrangig betrachtet. Dieses asymmetrische Verhältnis hat seine Wurzeln in den zwei bzw. drei Jahrhunderten, in denen die meisten Ukrainer (mit Ausnahme der Westukrainer) zum Russländischen Reich und dann zur Sowjetunion gehörten. Im 19. Jahrhundert verloren die Ukrainer ihren Adel und ihre Bildungsschicht, die in der russischen Elite aufgingen, sie verloren ihre Hochsprache und ihre Hochkultur und wurden weitgehend ein Volk von Bauern. Die Ukraine, die im 17. und 18. Jahrhundert im übrigen Europa bekannt gewesen war, verschwand von der kognitiven Landkarte.