Der Titel ihres aktuellen Forschungsprojekts macht neugierig: "Weibliche Verhaltenslehren im Luftkrieg, Deutschland und Großbritannien, 1925-1947". Verhalten sich Frauen im Luftkrieg anders als Männer? Gibt es dabei sogar nationale Unterschiede? Gelten für deutsche Frauen andere Verhaltensweisen als für britische? Kann die Angst vor Bombeneinschlägen tatsächlich nach genderspezifischen sowie nach nationalen Kriterien unterschieden werden? Die Literaturwissenschaftlerin Dr. Sabine Kalff von der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese und andere Fragen zu ihrem Projekt beantwortet. Dabei sind viele überraschende Aspekte zu Tage getreten, die auch uns als Redaktion den Spiegel vorgehalten haben.
"Relative Abwesenheit starker Emotionen wie Angst, Verzweiflung und Trauer"
L.I.S.A.: Frau Dr. Kalff, Sie forschen derzeit zum Thema „Weibliche Verhaltenslehren im Luftkrieg, Deutschland und Großbritannien. 1925-1947“. Die Titel deutet bereits einiges an, aber könnten Sie uns kurz erklären, um was es dabei genau geht?
Dr. Kalff: In dem Projekt geht es um weibliche Reaktionen auf ein modernes militärisches Phänomen, den Luftkrieg, wie er seit den frühen 1920er Jahren konzipiert und ab den 1930er Jahren in die Praxis umgesetzt wurde. Als ‚totaler Krieg‘ bezog er die Zivilbevölkerung auf neue Weise in das Kriegsgeschehen ein. Durch die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Front und ‚Heimatfront‘ wurden Frauen, die in den Städten die Bevölkerungsmehrheit darstellten, zum bevorzugten Objekt von Luftangriffen. Dadurch verschwammen die Grenzen zwischen kombattanten und nicht-kombattanten Kriegsteilnehmern. Aber Frauen partizipierten nicht nur als Zielobjekte am Luftkrieg, sondern partizipierten auch als Testpilotinnen, Überführungsfliegerinnen und Flak-Helferinnen, als sogenannte ‚Blitz-Mädchen’ am Krieg. Das schuf ein kollektives weibliches Kriegserlebnis, das aber auf ganz unterschiedlichen Erfahrungen basierte.
Die alliierte Strategie des moral bombing zielte darauf ab, die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Als normale Reaktion auf die akute und wiederkehrende Lebensgefahr erwartete man psychologisch zunächst Panik und starke emotionale und nervliche Erregung. Zumal die Bedrohung des Luftkriegs zwei instinktive Reaktionen auf Gefahr, Flucht und Angriff, unmöglich machte. Liest man historische Zeugnisse über die Luftangriffe, scheinen die Betroffenen jedoch sehr ‚cool‘ damit umzugehen. Ein Großteil der Familie kommt um, und die Überlebenden berichten stoisch von zahllosen Details, durch den Keller welchen Hauses genau sie entkommen konnten, über welche Straße sie dem Feuersturm entflohen, usw. Diese Details sind in chronistischer Hinsicht wertvoll, trotzdem wundert uns heutige Leser, mit welcher Ausführlichkeit der Erhitzungsgrad einer Straßenbahn, die Rauchentwicklung im Keller und dergleichen geschildert werden, die emotional eher nebensächlich sind verglichen mit der Ungewissheit, ob plötzlich verschwundene Kinder, Ehemänner und Eltern noch leben. Die relative Abwesenheit starker Emotionen wie Angst, Verzweiflung und Trauer zeugt davon, dass es psychologische Strategien oder Selbsttechniken gab, die den Frauen halfen, mit den physischen und psychischen Belastungen des Luftkriegs umzugehen. Mit weiblichen Verhaltenslehren sind also zunächst Verhaltensweisen gemeint, mit denen die Betroffenen selbständig auf die Bedrohung reagierten, wie etwa die Konzentration auf das unmittelbar Vorhandene, gesteigerter Aktivismus, betonte Ruhe. Damit wende ich Helmut Lethens These von den „Verhaltenslehren der Kälte“, die dieser vor allem bei den Autoren der Neuen Sachlichkeit in den 1920er Jahren ortet, auf eine andere historische Konstellation und auf ein anderes Geschlecht an: Wie sehen die weiblichen Verhaltenslehren aus, die mit ihrer Betonung der relativen Emotionslosigkeit allen gängigen kulturellen Zuschreibungen an Weiblichkeit widersprechen? Mich interessiert, wie sich diese Verhaltensweisen einerseits real äußerten, zum anderen, da sie uns ja zumeist nicht unvermittelt vorliegen, sondern textlich vermittelt, welche rhetorischen Strategien dabei zum Einsatz kommen.