In Zeiten von Fitness-Trackern und Gesundheits-Apps scheint der Wille zur Selbstoptimierung heute allgegenwärtig. Die Kalorie spielt dabei eine wichtige und selbstverständliche Rolle – doch das war nicht immer so. Es lohnt sich daher, den historischen Blick auf die "Erfindung" der Kalorie und den Ursprung des Kalorienzählens ab Ende des 19. Jahrhunderts zu richten. Welchen Effekt hatte die Kalorie auf das Verhältnis der Menschen zu Ernährung und Gesundheit? In welche sozialen und kulturellen Entwicklungen war der Siegeszug der Kalorie eingebettet? Dr. Nina Mackert von der Universität Erfurt beschäftigt sich mit diesen Fragen in Bezug auf die U.S.-amerikanische Geschichte. Wir haben sie dazu in unserem Interview befragt.
"Körperfett schien auf einen Mangel an Selbstkontrolle hinzuweisen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Mackert, Sie beschäftigen sich mit der Geschichte der Kalorie in den USA. Die Kalorie wurde Ende des 19. Jahrhunderts „erfunden“ – zu einer Zeit also, in der Übergewicht nicht länger als Symbol für Wohlstand wahrgenommen wurde, sondern als gesundheitliches Problem. Was war der gesellschaftliche Hintergrund dieses Wandels und welche Rolle spielte dabei die Kalorie?
Dr. Mackert: Zunächst zur Erfindung der Nahrungskalorie: In den 1890er Jahren schickte der Chemiker Wilbur Atwater einen seiner Studenten in eine raumfüllende Box aus Holz und Kupferrohren, die er in einem Labor in Middletown, Connecticut, aufgebaut hatte. Atwater und sein Team baten diese Testperson dann, abwechselnd Gewichte zu stemmen und zu lesen. Zu essen gab es genau abgemessene Portionen Brot, Bohnen, Steak, Milch und Kartoffelpüree. Und während der Student Hanteln stemmte, las und aß, beobachteten ihn die Forscher durch ein dreifach verglastes Fenster und maßen genau, was er an Wärme, Kohlendioxid und Ausscheidungen produzierte. Anhand dieser Experimente bestimmten sie die Menge der Kalorien, die die Nahrung hatte und die ein Körper brauchte, um bestimmte Tätigkeiten auszuführen. Die Box, Sie ahnen es, war der erste Kalorimeter in den USA, mit dem der Verbrennungsprozess von Nahrung anhand des menschlichen Körpers gemessen werden konnte.
Der menschliche Körper stand schon seit einiger Zeit mehr und mehr im Mittelpunkt des Interesses neu entstandener Wissenschaften wie Physiologie und Ernährungswissenschaft, die ihn zu vermessen und zu optimieren suchten. Die Dekaden um 1900 waren in vielerlei Hinsicht eine Umbruchszeit und geprägt von dem Streben nach einer Steigerung von Effizienz in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen und mit besonderer Hilfe der Wissenschaften.
In diesem Klima vollzog sich ein Wandel in der Bedeutung von dem, was als „Übergewicht“ wahrgenommen wurde. Vorher wurde es freilich auch schon thematisiert, es galt aber nicht als das große Problem für Gesundheit und Fitness, sondern stand für Wohlstand und das Privileg, keine körperlich schwere Arbeit verrichten zu müssen. Im frühen 20. Jahrhundert dagegen verstanden viele Körperfett als modernes Problem der neu entstandenen Mittelklasse, die körperlich nicht mehr so hart arbeiten musste, aber noch nicht ganz an den neuen Wohlstand gewöhnt war – sich also beim Essen vermeintlich nicht zurückhalten konnte. Während Selbstkontrolle als besonders wichtiger Wert in den modernen USA galt, schien Körperfett auf einen Mangel an dieser Selbstkontrolle hinzuweisen. Die Kalorie spielte eine große Rolle dabei, diesen Wandel zu stabilisieren. Sie versprach, eine genaue Vergleichbarkeit von Nahrungsmitteln zu gewährleisten und das Verhältnis von Nahrungsinput und körperlichem Output und auch von Ernährung und Gesundheit berechenbar und steuerbar zu machen.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar