L.I.S.A.: Inwiefern unterscheiden sich die amerikanischen Abhörprotokolle von den britischen? Mit was für Soldaten hatten Sie es zu tun?
Dr. Römer: Sowohl im britischen als auch im amerikanischen Quellenmaterial kommen ganz gewöhnliche Soldaten zu Wort, in den meisten Fällen handelte es sich um Mannschaftsdienstgrade, Unteroffiziere oder niedrige Offiziersränge. Das britische Quellenmaterial hat gegenüber den US-amerikanischen Akten zunächst einmal den Vorteil, dass es besser aufbereitet worden ist. Vom britischen Militärnachrichtendienst sind ausnahmslos nur maschinenschriftliche Abhörprotokolle überliefert, während vom amerikanischen Military Intelligence Service auch viele handschriftliche Abhörprotokolle vorliegen, die quasi die Rohfassung der Gesprächsmitschriften darstellten. Dadurch erfordert das amerikanische Materials größeren Aufwand, bietet auf der anderen Seite aber einen vollständigeren Überblick über die Gesprächsthemen der internierten Wehrmachtssoldaten.
Daneben unterscheidet sich das amerikanische Quellenmaterial jedoch vor allem durch die biographischen Daten, die der US-Nachrichtendienst über die abgehörten Deutschen gesammelt hat. Der amerikanische Bestand ist in alphabetischer Reihenfolge nach den Namen der internierten Wehrmachtssoldaten geordnet, zu jedem Insassen gibt es eine Gefangenenakte. In diesen Personalakten sind neben den angefertigten Abhörprotokollen und Vernehmungsberichten auch alle verfügbaren Informationen über den persönlichen Hintergrund der Gefangenen enthalten. Daher kennen wir bei jedem der abgehörten Wehrmachtssoldaten nicht nur den Namen, den Dienstgrad und die militärische Karriere, sondern auch das Alter, den Bildungsstand, den Zivilberuf und vieles mehr. Der britische Aktenbestand bietet diese Möglichkeit nicht – dort erscheinen die abgehörten Soldaten nur als Zahlen-Buchstaben-Kombination, die wir nicht mehr auflösen können. Der amerikanische Bestand erlaubt es somit zu untersuchen, ob und inwieweit die sozialen und biographischen Hintergründen der Soldaten möglicherweise einen Einfluss darauf hatten, wie die Männer das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg erlebten.
Ich darf bei dieser Gelegenheit noch darauf hinweisen, dass wir in Kürze auf der Website des Mainzer Historischen Seminars eine Liste mit den Namen aller Wehrmachtssoldaten einstellen werden, über die uns Gefangenenakten aus dem amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt vorliegen. Sofern bei den Angehörigen bzw. Nachfahren dieser Soldaten Interesse besteht, machen wir das Angebot, zu familiengeschichtlichen Zwecken Kopien der Gefangenenakten zur Verfügung stellen.
L.I.S.A.: Lassen sich aus den biographischen Informationen Rückschlüsse auf das Verhalten der Soldaten ziehen? Machte es einen Unterschied, ob ein Soldat Metallarbeiter oder Gymnasiallehrer war?
Dr. Römer: Grundsätzlich ist festzustellen, dass es keinen Automatismus zwischen soziokulturellen Hintergrund und der Weltsicht der Soldaten gab, von ihrem Verhalten ganz zu schweigen. Überhaupt verliefen die weltanschaulichen Trennlinien in der Wehrmacht wie in der deutschen Kriegsgesellschaft längst quer zu den traditionellen Sozialmilieus, d.h. es gab ähnlich viele Anhänger und Gegner des Regimes in der Arbeiterschaft wie etwa im Bürgertum. Ein tiefgründiges politisches Bewusstsein war freilich bei den meisten Soldaten kaum vorhanden, auch wenn sich die gebildeten, bürgerlichen Wehrmachtsangehörigen in dieser Hinsicht von der Masse tendenziell abhoben. Die Soldaten waren im Kriegsalltag eher darauf bedacht, die täglichen Herausforderungen zu bewältigen, ihre Arbeit gut zu machen und sich im Kameradenkreis zu bewähren, als dass sie sich an abstrakten ideologischen Überzeugungen orientierten.
Zumindest in einer Hinsicht zeugt das Quellenmaterial gleichwohl von der Wirksamkeit biographischer Prägungen: Das Lebensalter der Soldaten spielte eine wichtige Rolle. In der Alterskohorte der jüngeren Wehrmachtsangehörigen, die das NS-Erziehungssystem durchlaufen hatten, lässt sich eine deutlich weiter reichende Identifikationen mit den Normen und Werten des herrschenden Systems feststellen, als dies bei den älteren Soldaten der Fall ist, die noch während der Weimarer Republik oder gar im Kaiserreich sozialisiert worden waren. Hieran zeigt sich, dass der zeitliche und soziale Kontext der Sozialisation tatsächlich einen Unterschied machen konnte.
Im Alltag des Krieges wurden solche Unterschiede natürlich häufig verwischt, denn die entscheidende Bezugsgröße für die Soldaten war und blieb ihre Einheit: In der Regel richteten die Soldaten ihr Handeln nach der Gruppe aus, unabhängig davon, ob dies nun ihren Überzeugungen und ihrer Erziehung entsprach oder nicht. Gleichwohl ergaben sich im Krieg immer wieder Situationen, in denen die Soldaten auf sich selbst verwiesen waren und eigene Entscheidungen treffen mussten. In solchen Momenten konnten individuelle Einstellungen und soziokulturelle Prägungen durchaus zum Tragen kommen und sogar das Handeln der Soldaten beeinflussen.