Nach einer Studie verdoppelt sich alle zwei Jahre die weltweite Datenmenge. Diese kaum noch fassbaren Datenkomplexe, die mit klassischen Methoden der Datenverarbeitung nicht mehr zu verarbeiten bzw. auszuwerten sind, werden allgemein als Big Data bezeichnet. Doch was genau ist damit gemeint? Wie kann diese Flut an Informationen bewältigt werden? Welchen Nutzen haben sie für die Wissenschaft? Wir haben diese und andere Fragen dem Kultur- und Medientheoretiker Prof. Dr. Ramón Reichert von der Universität Wien gestellt, der dazu auch einen aktuellen Sammelband herausgegeben hat.
"Erwartungen an die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts haben sich maßgeblich verändert"
L.I.S.A.: Herr Professor Reichert, Sie haben jüngst einen umfangreichen Band herausgegeben mit dem Titel "Big Data". Ein Begriff, der heute sehr viel Verwendung findet, von den Medien geliebt wird, oft ohne dass dabei klar würde, was er eigentlich meint. Sie bezeichnen ihn als buzzword. Was meinen Sie damit? Und was ist denn nun eigentlich Big Data?
Prof. Reichert: Das Schlagwort Big Data ist in aller Munde – und beschreibt nicht nur wissenschaftliche Datenpraktiken, sondern steht auch für einen gesellschaftlichen Wandel und eine Medienkultur im Umbruch. Mit der Annahme, dass die digitalen Medien und Technologien nicht einfach nur neutrale Botschaften übertragen, sondern ein kulturelles Gedächtnis etablieren und eine soziale Wirkmächtigkeit entfalten, können sie als Selbstverständigungsdiskurse der Gesellschaft verstanden werden.
Die Forschungsmethoden der Big-Data-Research - wie etwa die Text-, Sediment-, Netzwerk- und Bildanalysen - basieren auf der Erkenntnis, dass sich das Social Web zur wichtigsten Datenquelle bei der Herstellung und Verwendung von Regierungs- und Kontrollwissen entwickelt hat. Die sich dabei verändernden Selbstverständnisse, wie auch die lokalen und globalen Erwartungen an Wissenschaftskulturen und Epistemologien bewirken, dass die der Big-Data-Research zugrundeliegenden fächerübergreifenden Praxisorientierungen eine nuancierte Genealogie, Datenkritik und Medienreflexion der datenintensiven Formen der Wissensproduktion erfordern.
Eine medien- und kulturwissenschaftliche Reflexion der digitalen Großforschung distanziert sich von den normativen Diskursen des Daten- und Informationsmanagements, welche die Ansicht vertreten, dass die Entwicklung der spätmodernen Gesellschaften einerseits von der zunehmenden Verbreitung und alltäglichen Nutzung Sozialer Medien und andererseits von der Nutzung von Großdaten abhängig ist. In diesem Sinne kann man sowohl von datenbasierten als auch von datengesteuerten Wissenschaften sprechen, da die Wissensproduktion von der Verfügbarkeit computertechnologischer Infrastrukturen und der Ausbildung von digitalen Anwendungen und Methoden abhängig geworden ist.
Damit einhergehend haben sich auch die Erwartungen an die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts maßgeblich verändert und in diesen Debatten werden zunehmend Forderungen laut, die darauf bestehen, die historisch, kulturell und sozial einflussreichen Aspekte der digitalen Datenpraktiken systematisch aufzuarbeiten – verknüpft mit dem Ziel, diese in den künftigen Wissenschaftskulturen und Epistemologien der Datenerzeugung und -analyse zu verankern.