In den Hauptmedien kommen sie heute kaum noch vor. Wer sich über die Gelbwestenbewegung in Frankreich informieren will, muss auf die sozialen Netzwerke zurückgreifen, wo vor allem Videos von gewaltsamen Zusammenstößen kursieren. Insgesamt fehlt nach wie vor eine nüchterne und kritische Analyse der sogenannten Gilets Jaunes - in den Leitmedien wurden sie im vergangenen Jahr überwiegend als ungezügelter Mob dargestellt, der einer vernünftigen Politik der Regierung Macron lediglich Gewalt entgegensetzen würde. Die Befürworter kontern mit einer Heroisierung der Gelbwesten und ziehen eine direkte Linie zur Französischen Revolution von 1789, in deren Tradition sie verstanden werden möchten. Anders der Schriftsteller Guillaume Paoli, der zuletzt ein Buch über die Gelbwesten veröffentlicht hat, in dem er diese nach gut einem Jahr kritisch reflektiert. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Die Hauptmedien beschränkten sich darauf, die Sichtweise der Regierung zu vermitteln"
L.I.S.A.: Herr Paoli, Sie haben jüngst und pünktlich zum Jahrestag der ersten sogenannten Gelbwesten-Proteste ein Buch mit dem Titel "Soziale Gelbsucht" veröffentlicht, in dem Sie ein Jahr "Gilets Jaunes" kritisch analysieren. Nun ist über die Bewegung der Gelbwesten bereits viel berichtet und geschrieben worden. Warum haben Sie sich nun mit dieser Protestform auseinandergesetzt? Welche Vorüberlegungen gingen Ihrem Buch voraus?
Paoli: Über die Gelbwesten wurden zwar viele Berichte geschrieben, die meisten davon waren jedoch furchtbar verzerrend wenn nicht verleumderisch. Das hat mich empört, ich fühlte mich zu einer Gegendarstellung verpflichtet, obwohl ich kein politischer Journalist bin. In Frankreich war die Berichterstattung nicht besser, aber immerhin konnten Franzosen die von Gelbwesten besetzten Verkehrskreisel selbst besuchen und sich eine eigene Meinung bilden. Hingegen sind Deutsche, die sich informieren wollen, auf Auslandskorrespondenten und Leitartikler angewiesen. Die Gründe ihres journalistischen Versagens wären ein Forschungsgegenstand für sich...
Im Dezember 2018 hatte ich eine Samstagsdemonstration besucht, ich kannte persönlich Menschen, die mitinvolviert waren, vor allem verfolgte ich tagtäglich die Kommunikation der Gelbwesten auf soziale Medien. Eine ihrer Facebook-Seiten zählt 300.000 Mitglieder. Da kann man getrost davon ausgehen, dass die Gefühle, Motive und Meinungen in ihrer ganzen Spannbreite ziemlich getreu wiedergegeben werden. Eine direkte, ungefilterte Kenntnisnahme war ohne großen Aufwand möglich. Stattdessen beschränkten sich die Hauptmedien darauf, die Sichtweise der Regierung zu vermitteln. Macron hatte ja die Gelbwesten eine „hasserfüllte Menge“ genannt, und das wurde zum Leitmotiv der Mediokraten, mit einem überheblich pädagogischen Gebaren gekoppelt: Die einfachen Leute, die da draußen protestieren, seien unqualifiziert, ihnen fehle das Expertenwissen, um wirtschaftliche und politische Zusammenhänge korrekt zu begreifen. Darum könne die Vermittlung nur unilateral geschehen. Die Worte dieser Menschen, ihre Beschwerden, ihre Wünsche wurden für vernachlässigbar gehalten.
Mich interessiert an dieser Bewegung, dass sie absolut neu ist. Sie lässt sich nicht mit herkömmlichen Kategorien begreifen. Das ist auch der Grund, weshalb sie vielen Linken suspekt ist. Sie erkennen die ihnen vertraute Symbolik, die linke Protestsprache nicht wieder. Auch ich war ganz am Anfang nicht sicher, ob sich da nicht eine rechtsnationale Gruppierung zusammenbraute. Das konnte so wenig ausgeschlossen werden, wie umgekehrt eine egalitär-universalistische Entwicklung. Doch gerade diese Unbestimmtheit war das Spannende. Die meisten Teilnehmer hatten keine vorhandene politische Erfahrung. Sie agierten spontan und experimentell. In diesem Sinne waren die Uhren auf null gestellt, eine seltene Gelegenheit, zu prüfen, welche Elemente der altbewahrten Protesttradition schließlich doch unverzichtbar sind, welche nicht, welche wiederum neu erfunden werden und warum. Anstatt sich gleich pro oder kontra zu positionieren, waren Neugierde und Offenheit geboten.
Auf der intellektuellen Ebene war ich von diesen Ereignissen fasziniert, weil sie die Thesen zu bestätigen schienen, die ich ein knappes Jahr davor in meinem Buch „Die lange Nacht der Metamorphose“ vorgestellt hatte. Ich hatte über die soziale und kulturelle Trennung zwischen Peripherien und Metropolen geschrieben, über die negativen Auswirkungen des meritokratischen Systems auf die Globalisierungsverlierer, über die Unempfänglichkeit der urbanen Linken für solche Themen. Damals schrieb ich: „Die meisten Menschen sind unsichtbar gemacht worden.“ Nun zogen sich die Unsichtbaren „Sichtbarkeitswesten“ an...