Der sogenannte "Historikerstreit" gehört zu den bedeutendsten gesellschaftlichen Debatten der Bonner Republik. Ausgelöst hatte ihn Jürgen Habermas 1986 mit einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit, in dem er führenden deutschen Zeithistorikern revisionistische Tendenzen im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vorwarf. Verkürzt auf den Punkt gebracht, entzündete sich Debatte an Ernst Noltes These, der Gulag sei Auschwitz vorangegangen bzw. die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten sei eine Abwehrreaktion auf die sowjetischen Verbrechen gewesen. Was schon länger eine fachwissenschaftliche Auseinandersetzung unter Historikern war, wurde so zu einer öffentlichen Debatte mit zwei Lagern: linksliberal versus rechtskonservativ. Der Historiker Dr. Gerrit Dworok hat sich rund dreißig Jahre nach dem Artikel von Jürgen Habermas die Debatte noch einmal genauer angeschaut und unter einer neuen Fragestellung analysiert: Welchen Beitrag leistete der "Historikerstreit" für die Nationswerdung in Deutschland? Wir haben ihn dazu interviewt.
"Thematisch kein auf die 1980er Jahre zu reduzierender Streit"
L.I.S.A.: Herr Dr. Dworok, Ihre Dissertationsarbeit ist jüngst als beeindruckendes Buch erschienen und trägt den Titel „‘Historikerstreit‘ und Nationswerdung. Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts“. Schon der Titel lässt aufhorchen, denn mit den Begriffen „Historikerstreit“ und „Nationswerdung“ sind emotional stark aufgeladene Debatten verbunden, die Sie entsprechend als Konflikt betrachten. Wie kamen Sie dazu, diese zwei konfliktbeladenen Diskurse miteinander zu verknüpfen? Was hat der „Historikerstreit“ mit dem Prozess der Nationswerdung zu tun - wobei hier noch eine weitere nicht unproblematische Variable hinzukommt, denn es geht Ihnen offenbar nicht um die deutsche, sondern konkret um die bundesrepublikanische Nationswerdung, oder?
Dr. Dworok: Lassen Sie mich zuerst etwas zu meiner Motivation sagen, den „Historikerstreit“ trotz der bereits existierenden Veröffentlichungen einmal aus dezidiert historiographischer Perspektive in den Blick zu nehmen: Der „Historikerstreit“ gilt gemeinhin als eine Schlüsseldebatte um das Selbstverständnis und die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland (so wurde die Debatte beispielsweise von Hans-Ulrich Wehler, einem der Hauptakteure des damaligen Konflikts, eingeschätzt). Eine Gruppe linksliberaler Intellektueller habe in den 1980er Jahren den Versuch der Regierung Kohl unterbunden, mit Hilfe der „neokonservativen“ Historiker Michael Stürmer, Ernst Nolte, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand einen geschichtspolitischen Roll Back einzuleiten, dessen Folgen eine Renationalisierung der Bundesrepublik sowie der Zerfall der politischen Kultur gewesen wären. Gleichzeitig wird immer wieder betont, dass der „Historikerstreit“ wissenschaftlich rein gar nichts gebracht hätte (entsprechend äußerte sich jüngst Norbert Frei im Juni 2015 auf einer Veranstaltung der Gerda Henkel Stiftung). Diese in Geschichtswissenschaft und Medien oft wiederholten Hypothesen haben mein Interesse geweckt, denn sie bilden die Eckpfeiler eines Narrativs, das aus der Rückbetrachtung eines altersbedingt unbeteiligten Historikers äußerst einseitig und beschwörend anmutet – zumal, wenn man bedenkt, dass Erinnerungs- und Vergessensprozesse in Demokratien eigentlich nicht derart minderkomplexe Muster aufweisen wie in dem angesprochenen Narrativ (der Erzählung einer in die politische Kultur des zivilisierten Westens hineinwachsenden Bundesrepublik) suggeriert wird. Dieser Widerspruch motivierte mich zur Auseinandersetzung mit dem Konflikt. Zurückgreifen konnte ich dabei auf die politikwissenschaftliche Studie „What´s right? What´s left?“, die Steffen Kailitz im Jahre 2001 veröffentlichte und in der die Positionen der einzelnen „Historikerstreiter“ deutlich und erstmals durchgehend sachlich herausarbeitet wurden. In meinem Buch habe ich nun versucht, den „Historikerstreit“ in die bundesrepublikanische Geschichte einzuordnen, was uns zu Ihrer zweiten Frage führt: warum die Verknüpfung mit dem Begriff Nationswerdung?
Gegen Ende meiner Studienzeit kam ich im Rahmen einer wissenschaftlichen Übung mit der Nationalismusforschung in Berührung. Da mir bis dahin nur die kritische deutsche Rezeption von Frühnationalisten wie Ernst Moritz Arndt sowie von rassistischen Radikalnationalisten wie Gottfried Feder bekannt war, verblüfften mich die in der Übung vertieften Ansätze vor allem Ernest Renans, Karl W. Deutschs, Benedict Andersons und Ernest Gellners enorm. Es wurde mir klar, dass die Entstehung und Gestaltung von Nationen eng verbunden ist mit dem kollektiven Prozess des Erinnerns und Vergessens. „Streitgeschichte“ bildet diesbezüglich ein gesellschaftliches Politikum, das für kollektive Identitäten von größter Bedeutung zu sein scheint. Im deutschen Fall musste dies aufgrund der NS-Vergangenheit und der totalen Niederlage von 1945 in besonderem Maße gelten. Die Lektüre von Aleida Assmanns Studien zur Erinnerungskultur, welche sich sehr intensiv etwa mit Ernest Renans Bild vom „täglichen Plebiszit“ einer Nation beschäftigen, bestätigten diese Annahme. Für mich lag es deshalb nahe, den „Historikerstreit“ in nationalismustheoretischer Perspektive zu untersuchen. Allerdings gab es dabei ein Problem: die geschichtliche Nationsforschung legt bis heute ihren Fokus auf das 19. und das frühe 20. Jahrhundert. Die Zeit nach 1945/49 – als insbesondere in Deutschland keine mehrheitsfähige nationalistische Strömung existierte, gleichwohl aber das Thema Nation und die organisatorische Frage der deutschen Teilung einen empirisch nachweisbaren Diskurs bildeten – ist mit den bislang entwickelten historiographischen Analysemodellen (von Theodor Schieder bis Miroslav Hroch) nicht zu fassen. Ich habe deshalb in Anlehnung an die Forschungen Renans und vor allem Gellners den Terminus der „Nationswerdung“ aufgegriffen und als Untersuchungskonzept ausformuliert: Nationswerdung ist ein dynamischer (potentiell unendlicher) Prozess, der mit der Entstehung (und genauso wenig mit dem vermeintlichen Untergang) eines Nationalstaates nicht abgeschlossen ist, sondern so lange fortexistiert, wie nationales Denken und vor allem Fühlen mehrheitsfähig sind und das Leben einer Gesellschaft (ob nun bewusst oder auch unbewusst) in der Art beeinflussen, dass ihre Mitglieder sich im nationalen Sinne als politische Gemeinschaft und als kulturelles Kollektiv verstehen. Will man diesen Prozess untersuchen, so muss man sich sowohl organisatorische Aspekte eines Staatswesens als auch die Entwicklung seiner politischen Kultur betrachten. Gellner definierte diesbezüglich die Formel: „Nationalismus – Kultur und Macht“. Dies habe ich in Bezug auf die Bonner Republik berücksichtigt, womit wir bei Ihrer dritten Frage sind: deutsche oder bundesrepublikanische Nationswerdung?
Zur Erklärung möchte ich drei Argumente anführen. Erstens wird beim kritischen Quellenstudium der Beiträge zum „Historikerstreit“ (von denen 47 zentrale Schriften im Quellenband „Historikerstreit – Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung“ gesammelt sind) sehr schnell deutlich, dass der Konflikt thematisch kein auf die 1980er Jahre zu reduzierender Streit gewesen ist. Er war auch keinesfalls beschränkt auf die Frage der Einzigartigkeit von Auschwitz. Vielmehr offenbaren die Beiträge – abseits von den vielen persönlichen Angriffen – diverse kritische sowie auch affirmative Rückgriffe auf die Streitgeschichte der Bonner Republik. Thematisiert wurden beispielsweise: die Deutsche Frage, die Wiedergutmachungszahlungen der Regierung Adenauer, die Westbindung, die nationale Identität der Deutschen, die Entnazifizierung, die 68er, die Hochschulreform, die Aufarbeitung der NS-Geschichte sowie einige weitere konfliktbeladene Aspekte der bundesdeutschen Vergangenheit. Ferner ist zweitens von Bedeutung, dass der Streit ein dezidiert westdeutscher Konflikt gewesen ist, in dem die Kontrahenten nicht bloß die DDR, sondern auch die Perspektiven Mitteleuropas sträflich vernachlässigt haben. Schließlich kommt als drittes Argument für eine dezidiert bundesrepublikanische Ausrichtung hinzu, dass die politische Auswirkung des „Historikerstreits“, nämlich die Etablierung einer Art „Staatsräson des Erinnerns und Gedenkens“, auch in der Berliner Republik maßgeblich bleibt. Das Gedenken an den Holocaust ist eines der wichtigsten Aspekte dessen, was heute gerne als aufgeklärter Patriotismus bezeichnet wird. Dies ist nicht ohne die spezifische Geschichte der Bonner Republik und insbesondere ohne die Berücksichtigung des „Historikerstreits“ zu verstehen. Betrachtet man die drei genannten Argumente, so scheint die Aussage von einer bundesrepublikanischen Nationswerdung plausibel, wobei jedoch klar sein dürfte, dass bundesrepublikanische Nationswerdung gleichzeitig auch deutsche Nationswerdung ist.
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