Der Topos "Sexuelle Gewalt im Zweiten Weltkrieg" ist im nationalhistorischen Gedenken vor allem mit Vergewaltigungen von Frauen durch die heranrückende Rote Armee verbunden. Wenig erforscht und bekannt sind dagegen die verschiedenen Formen sexueller Gewalt durch deutsche Soldaten in den von ihnen besetzten Gebieten. Die Historikerin Prof. Dr. Maren Röger von der Universität Augsburg hat die - wie Sie es in ihrem Buch nennt - Kriegsbeziehungen im besetzten Polen untersucht. Dafür wurde sie mit dem Preis "Geisteswissenschaften International" ausgezeichnet. Wir haben sie um ein Interview über Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzen Polen gebeten.
"Das ganze Spektrum von sexuellen Kontakten in den Blick genommen"
L.I.S.A.: Frau Professor Röger, Sie haben jüngst ein Buch über die Geschichte sexueller Kontakte im Zweiten Weltkrieg im besetzten Polen geschrieben. Der Band trägt den Titel „Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945“. Wie kamen Sie zu diesem Thema?
Prof. Röger: Die erste Idee kam mir noch während der Arbeit an meiner vorherigen Studie zu den öffentlichen Debatten um „Flucht und Vertreibung“ der Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkrieges. In der deutschen Erinnerungskultur spielt die sexuelle Gewalt der Rotarmisten, verübt an deutschen Frauen, eine wichtige Rolle. Doch ich fragte mich, was eigentlich andersherum passiert war: Wo, wann und wie hatten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Sexualverbrechen verübt? Ich war erstaunt über den im Jahr 2009 noch magereren Forschungsstand zu dieser Frage. Als ich mit meinen Recherchen begann, löste ich mich schnell von dem Fokus auf die Gewaltakte allein und begann das ganze Spektrum von sexuellen Kontakten in den besetzten polnischen Territorien in den Blick zu nehmen. Ein Buch mit diesem Schwerpunkt konnte generell zum Verständnis des Besatzungsalltages und der im besetzten Polen praktizierten Rassen- und Volkstumspolitik beitragen, da diese Gebiete ein „biopolitischer Laborraum“ (Peter Longerich) waren. Zudem ist es eine Geschichte einer Gesellschaft unter großem Druck, eine Sozialgeschichte eines besetzten Landes geworden.