II.
Betrachtet man die erste Phase der hier zu untersuchenden Entwicklung - die Tage und Wochen des unmittelbaren Kriegsendes -, so bedeutete sie für die NS-Eliten im eben definierten Sinne zweifellos die einschneidendste Markierung: Nur wer diese Phase überstand, gelangte überhaupt in die 50er Jahre der Bundesrepublik. Ein offenbar nicht unerheblicher, aber nicht genau zu bemessender Teil starb kurz vor oder nach dem Einmarsch der Alliierten durch Selbstmord, darunter nicht nur die weltweit bekannten Repräsentanten der NS-Diktatur wie Hitler, Goebbels, Himmler und andere, sondern auch zahlreiche hohe und mittlere Funktionsträger des Regimes, darunter überproportional viele Gauleiter. Der Anteil der führenden Angehörigen des Bereichs von SS und Sicherheitspolizei unter den Selbstmördern war allerdings überraschend gering - sei es aus politischer Naivität, aus Heroismus oder aus einer Art von fatalistischem Abenteurertum, das den „Selbstmord aus Angst vor dem Tode" als gewissermaßen unsportlich empfand und ablehnte.
Eine zweite, ebenfalls nicht kleine Gruppe befand sich bei Kriegsende im Einflußbereich der Roten Armee und wurde dort abgeurteilt und hingerichtet. Wie groß deren Zahl war, ist nicht genau bekannt und aufgrund der Vermengung von Kriegsgefangenen und NS-Verbrechern in der Sowjetunion auch nicht genau zu schätzen.[12]
Eine dritte Gruppe, bei weitem nicht die größte, emigrierte. Über sie sind wir mittlerweile durch eine Reihe von zum Teil jedoch sehr journalistischen Untersuchungen relativ gut informiert.[13]
Eine vierte Gruppe tauchte unter, wobei dies offenbar vor allem jenen gelang, deren Namen und Funktionen innerhalb des NS-Regimes den Alliierten und in der deutschen Öffentlichkeit bei Kriegsende nicht recht bekannt gewesen waren.[14]
Die in unserem Zusammenhang bedeutsamste und auch größte Gruppe aber sah sich seit Beginn der Nachkriegszeit und für viele Jahre massiven und tiefgestaffelten Repressionen von seiten der Besatzungsmächte ausgesetzt, deren Ausmaß und Intensität in der jüngeren Geschichte ohne Beispiel waren. Automatical Arrest, Internierungslager, Spruchgerichtsverfahren, zivile und militärische Strafprozesse, Entnazifizierungsverfahren sowie ein ganzer Katalog von Buß- und Strafmaßnahmen waren die wichtigsten Instrumente bei dem Versuch der Besatzungsmächte, die Kern- und Führungsgruppen des NS-Regimes, über deren Zusammensetzung, Größe und ideologische Konsistenz eher Vermutungen als exakte Kenntnisse bestanden, so vollständig wie möglich auszuschalten und politisch zu neutralisieren. Dies gelang in doch bemerkenswertem Maße: Die weit überwiegende Anzahl derjenigen, die im "Dritten Reich" führende Positionen innegehabt hatten oder in einer der im Nürnberger Hauptverfahren als"verbrecherisch" eingestuften Behörden und Organisationen tätig gewesen waren, verbrachte die ersten Monate oder Jahre nach Kriegsende in einem Internierungslager der Alliierten - insgesamt etwa 250.000 Menschen, im Sommer 1946 noch etwa die Hälfte, nach zwei Jahren noch etwa 40.000.[15]
In der englischen Zone wurden die meisten der länger Internierten, etwa 25.000, zudem vor ein Spruchgericht gestellt, das hohe Strafen verhängen konnte (wenn auch nur selten tatsächlich verhängte).
Etwa 6.000 Belastete wurden von den Westmächten an Drittstaaten ausgeliefert, davon etwa die Hälfte an solche des sich herausbildenden Ostblocks, vor allem an Polen. Gegen 5.200 Personen wurden Strafverfahren vor alliierten Militärtribunalen eröffnet, 4.000 von ihnen wurden verurteilt, davon 668 zum Tode. Etwa gleich viele Personen wurden von deutschen Gerichten wegen NS-Verbrechen gegen deutsche Staatsangehörige bis 1949 verurteilt.
Berücksichtigt man nun noch, daß die aus den Internierungslagern Entlassenen anschließend ein Entnazifizierungsverfahren durchlaufen und zum Teil massive Beeinträchtigungen im täglichen Leben, vor allem bei der Berufstätigkeit, in Kauf nehmen mußten, so wird deutlich, daß bei allen Lücken, Fehlern und Versäumnissen die Westmächte in ihrem Bestreben, die NS-Eliten auszuschalten und auf Jahre hinaus aus dem öffentlichen Leben in Westdeutschland herauszuhalten, ganze Arbeit geleistet hatten.
Gleichwohl - langfristige Bedeutung gewann diese Entwicklung nicht so sehr durch die in Prozeßstatistiken meßbaren Ergebnisse, sondern eher durch die den NS-Eliten dabei zugemuteten Erfahrungen. Denn für die meisten größeren und großen Nazis ging das Ganze vom Ende her gesehen doch eher glimpflich aus. Aber um welchen Preis! In den Internierungslagern, so berichteten die Intelligence Branches übereinstimmend, herrschte geradezu ein Wettbewerb des Opportunismus, des Abstreitens und Nichtwahrhabenwollens. Aus Neuengamme wurde vor 1947 gemeldet, daß 95 Prozent der Internierten den praktizierten Nationalsozialismus für falsch hielten. Verbitterung, Enttäuschung und Trotz, die anfangs vorgeherrscht hatten, wichen einem von den Verhältnissen erzwungenen und bald internalisierten Anpassungsdruck, der den einzelnen zwar das Leben und bald auch die Freiheit brachte, aber mit dem Verlust der politischen Identität und auch der persönlichen Geschichte verbunden war.[16] "Wer als Faschist ein Rückgrat gehabt hätte", so hat Lutz Niethammer zugespitzt formuliert, "hier wäre es gebrochen worden, weil der aufrechte Gang ins Aus geführt hatte und nur derjenige seine privilegierte Stelle behalten oder wiedererlangen konnte, der zu Kreuze kroch."[17]
Nun hatte es bereits seit 1946 von deutscher Seite, und hier vor allem von seiten der Kirche, Ansätze gegeben, das alliierte Denazification-program insgesamt und die Maßnahmen zur Ausschaltung der NS-Eliten im besonderen als falsch und schädlich zu kritisieren und seine schleunigste Beendigung zu fordern. Aber erst mit der schrittweisen Verschärfung des Kalten Krieges und der damit verbundenen Lockerung der alliierten Säuberungsmaßnahmen verbreiterte sich diese Kritik und verstärkte sich in Westdeutschland seit 1948 zu einer regelrechten Kampagne, die bis in die späten 80er Jahre hineinreichte und von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wurde.[18]
Internierungslager, Spruchkammern und Entnazifizierung, so hieß es bereits 1948, seien nichts anderes als "grausame Verfolgung, die selbst naziähnliche Methoden anwende, indem sie Menschen den Prozeß mache und sie in ‘Konzentrationslagern´ gefangenhalte".[19] Das 1948 eingeleitete überstürzte Ende des Entnazifizierungsverfahrens in den Westzonen hatte in bezug auf die hier interessierenden NS-Eliten besonders groteske Auswirkungen. Der zunächst von den Besatzungsbehörden selbst durchgeführte und dann den Deutschen übertragene Versuch, alle NS-Belasteten zu überprüfen und notfalls zu bestrafen, blieb schon angesichts des schieren Umfangs der Aufgabe auf halbem Wege stecken, so daß die aus Praktikabilitätsgründen vorgezogenen "leichten" Fälle zwar erledigt wurden, die zurückgestellten Fälle der Schwer- und Schwerstbelasteten aber entweder nicht mehr zur Verhandlung kamen oder mit lächerlich niedrigen Einstufungen versehen wurden.[20] Dem amerikanischen Intelligence Office fiel es nicht schwer, diese Entwicklung mit zahlreichen eindrucksvollen Beispielen zu illustrieren:
"Stellvertretender Gauleiter (britische Zone): fünf Jahre Haft, Anrechnung der bisherigen Internierung; ... Gestapo-Beamter, tätig in Polen von 1939 bis 1945: 30 Monate Haft, Anrechnung der 26 Monate Internierung; Nazi-Ortsgruppenleiter, als ´fanatischer Nazi` bezeichnet: sechs Monate Haft; Gestapo-Funktionär, an Mißhandlungen politischer Gefangener persönlich beteiligt: 18 Monate Gefängnis."[21] Das Verfahren hatte sich in sein Gegenteil verkehrt: Aus einer Prozedur zur Entfernung der Nationalsozialisten aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben war ein Verfahren geworden, durch das die einstigen Nazis das Stigma ihrer früheren Tätigkeiten loswurden. Nicht anders war die Entwicklung bei den Spruchgerichten in der englischen Zone. Die Angehörigen der Führungsspitze der NSDAP, der SS und der Sicherheitspolizei - vom stellvertretenden Gauleiter, Kriminaldirektor und Standartenführer an aufwärts - wurden im Durchschnitt zu 4.000 Mark Geldstrafe bzw. zwei Jahren Haft verurteilt, die auf die Internierungszeit angerechnet wurden.[22] Die Reaktionen der Betroffenen auf diese Entwicklung scheinen auf den ersten Blick paradox zu sein. Bereits in den Internierungslagern hatte sich gezeigt, daß diese über alle Erwartung milde Behandlung selbst von Schwerstbelasteten bei den Häftlingen nicht etwa zur Erleichterung oder gar Dankbarkeit gegenüber den so milde gesonnenen Besatzern führte, sondern im Gegenteil: Unruhe und Empörung nahmen in dem Maße zu, wie sogar hochrangige NS-Funktionäre mit geringfügigen Strafen davonkamen. Denn wenn selbst diese praktisch straffrei blieben - war dies nicht ebenso wie das unrühmliche Ende des Entnazifizierungsverfahrens ein Beweis dafür, daß ihnen nichts Schwerwiegendes hatte nachgewiesen werden können? Und waren damit nicht die Widersinnigkeit und Widerrechtlichkeit des ganzen Verfahrens geradezu bestätigt und die Parole von der "Siegerjustiz" gerechtfertigt worden?
Mit der Staatsgründung der Bundesrepublik erreichte das gesellschaftspolitische roll-back gegen die Denazification-Politik der Westmächte und das ihr zugrunde liegende Bild von Krieg und Nationalsozialismus eine neue Stufe. Hatte sich die fortwährend verschärfte Kritik zunächst auf die Entnazifizierung beschränkt - im Bundestag wurde sie 1950 als "modernes Hexentreiben", "Mißgeburt aus totalitärem Denken und klassenkämpferischer Zielsetzung" oder gar als „Verbrechen" bezeichnet[23] -, so weitete sich die Kritik nach dem 8. Mai 1949 - wiederum angeführt von Kirchenführern wie Frings, Dibelius oder Wurm - auch auf die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen durch deutsche und alliierte Gerichte aus. "Siegerjustiz" lautete hier der zentrale Begriff, und dahinter verbarg sich ein Geschichtsbild, das den Zweiten Weltkrieg (und damit auch die von den Deutschen begangenen Massenverbrechen) in den Kategorien des gewissermaßen "normalen Krieges" anzusehen versuchte. Nicht die exzeptionellen Massenverbrechen, sondern die militärische Niederlage der Deutschen gebe die Grundlage für die Strafverfahren ab, lautete die sich verbreiternde Überzeugung.
Hatten 1946 noch über 70 Prozent der Westdeutschen die Kriegsverbrecher-Prozesse bejaht, so wurden sie nun, 1950, von ebenso vielen abgelehnt. Zugleich wurden in der westdeutschen Öffentlichkeit Entnazifizierung, Internierungslager, Spruchgerichte und Kriegsverbrecher-Prozesse als Ausweis bereits empfangener Strafe und Sühne genommen, wobei die offenbaren Ungerechtigkeiten vor allem des Entnazifizierungsverfahrens als Beleg für die Verfehltheit des gesamten Unterfangens dienten und das dabei begangene "Unrecht" mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gewissermaßen verrechnet werden konnte.[24]
Die politische Konsequenz aus dieser breiten und auch von den großen demokratischen Parteien zum Teil mitgetragenen Kampagne bestand in einer Reihe von zum Teil sehr weitreichenden gesetzgeberischen Maßnahmen zur Integration der ehemaligen Nationalsozialisten in den ersten Jahren der neuen Republik. Durch die Amnestiegesetze von 1949 und 1954 wurde die große Mehrheit der von den deutschen Gerichten bestraften NS-Täter begnadigt und ihre Strafen ebenso wie die Urteile der Spruchgerichte aus dem Strafregister gestrichen.[25] Durch den Grundgesetz-Artikel 131 wurde im Jahre 1951 nahezu allen Beamten, die nach dem Krieg von den Alliierten aus politischen Gründen aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden waren, nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar das Recht verliehen, in ihre einstigen Positionen zurückzukehren - darunter übrigens, was oft übersehen wird, auch Gestapo-Beamte, soweit diese nachweisen konnten, daß sie zur Gestapo versetzt worden waren, was offenbar vielen nicht schwerfiel.[26] Damit waren in weniger als fünf Jahren der überwiegende Teil der alliierten Säuberungsmaßnahmen aus den Nachkriegsjahren rückgängig gemacht und das Gros der nationalsozialistischen Funktionsträger amnestiert und weitgehend reintegriert worden. Es lag auf der Hand, daß mit diesen weitreichenden Amnestiebestrebungen auch die in den alliierten Kriegsgefängnissen Landsberg, Wittlich und Werl einsitzenden, von den alliierten Tribunalen verurteilten "Kriegsverbrecher" zur Rehabilitation anstanden, und massive Einwirkungsversuche vor allem auf den amerikanischen Hochkommissar McCloy von seiten der westdeutschen Interessenverbände wie der Bundesregierung waren die Folge.[27] In dem Maße, wie die Westdeutschen im Zuge des Kalten Krieges und der Diskussion um eine deutsche Wiederbewaffnung den Eindruck gewannen, gebraucht zu werden, verstärkte sich dieser Druck, der sich in den Jahren 1951 bis 1953 zu einer massiven Kampagne für die NS-Verbrecher ausweitete, die sich insgesamt als sehr erfolgreich erwies und zeitweise unter der Parole "Erst Generalamnestie, dann Generalvertrag" stand. Nicht nur, daß in diesen Jahren die überwiegende Zahl der NS-Verbrecher aus den alliierten Gefängnissen entlassen wurde - darunter auch solche, die wenige Jahre zuvor zu lebenslänglicher Haft oder sogar zum Tode verurteilt worden waren -, es gelang für eine Weile sogar, den ohnedies problematischen Begriff des "Kriegsverbrechers" in der westdeutschen Öffentlichkeit durch die Neuschöpfung "Kriegsverurteilter" zu ersetzen und darunter sowohl Kriegsgefangene wie NS-Verbrecher zu verstehen und diese somit gleichzusetzen.[28]
In diese Atmosphäre aus Auftrumpfen, Rechtfertigung, schlechtem Gewissen und Kaltem Krieg, die politisch verbunden war mit verschiedenen Reorganisationsversuchen der nationalistischen Rechten, wurden die ehemaligen NS-Führer aus den Haftanstalten und Internierungslagern nun entlassen. Für eine erneute politische Betätigung boten sich ihnen verschiedene Wege an, die man in zwei Varianten zusammenfassen kann:
Zum einen die sich entwickelnden neonationalsozialistischen Gruppen und Parteien im Umfeld der SRP und DRP.[29] Diese stellten zwar für zahlreiche untere und mittlere NS-Chargen Auffangbecken und Betätigungsfelder dar, Personen aus den Führungsgruppen des NS-Regimes aber fanden sich dort nur selten. Dies mag verschiedene Gründe gehabt haben: Zum einen hätten solche Aktivitäten für einstige Führungskräfte des NS-Regimes einen unübersehbaren sozialen Abstieg bedeutet und sie aus den Chefetagen und dem Umgang auch mit den sozialen Eliten des Reiches in die Niederungen des kleinbürgerlichen Radau-Faschismus gestoßen. Zum anderen war mit einer ostentativen neonazistischen Aktivität die Gefahr für sie verbunden, daß bislang in den stattgehabten Verfahren unentdeckt gebliebene Verbrechensbeteiligungen doch noch bekannt wurden.
Die zweite Möglichkeit politischer Einflußnahme der ehemaligen NS-Eliten in den Jahren zwischen 1949 und 1953 boten die lockeren Verbindungen in "Kreisen", "Stammtischen" und "Clubs", ganz nach dem Vorbild der Organisationsform der rechtsradikalen Intellektuellen der "konservativen Revolution" in den 20er Jahren, der ja viele führende NS-Funktionäre gerade aus dem Bereich von Sicherheitspolizei und SS entstammten. Die bekanntesten dieser Kreise waren der Düsseldorfer "Naumann-Kreis" um Werner Naumann, den einstigen Staatssekretär unter Goebbels und dessen designierter Nachfolger, und der damit teilidentische "Gauleiter-Kreis" um Florian, Grohé und Kaufmann.[30] Hier war der Versuch, erneut Einfluß auf die Politik zu nehmen, durch die Infiltration der nordrhein-westfälischen FDP explizit und mit einigem Erfolg unternommen worden. Daß dies in enger Abstimmung mit dem außenpolitischen Sprecher der FDP, Achenbach, und dem seit 1952 in dessen Kanzlei tätigen ehemaligen Stellvertreter Heydrichs Dr. Werner Best, geschah, verlieh diesem Geschehen zusätzliche politische Brisanz.[31] Und anders als bei anderen derartigen Kreisen ging der Impetus über die individuellen und historischen Rehabilitationsversuche der Beteiligten auch hinaus. Auf der anderen Seite zeigte selbst dieser (durch zahlreiche Untersuchungskommissionen und Geheimdienstberichte ungewöhnlich genau analysierbare) Versuch einer politischen Reaktivierung ehemals führender Nationalsozialisten, wie sehr die Protagonisten bereits zu dieser Zeit in der Bundesrepublik Fuß gefaßt hatten und wie sehr die meisten das Risiko scheuten, diese ersten Schritte ihrer sozialen Rekonsolidierung erneut aufs Spiel zu setzen. Hinzu kam, daß auch in diesen Kreisen - nicht anders als in den rechtsradikalen Splitterparteien - ein positiv zu benennender politischer Nenner nicht gefunden werden konnte, zumal der Hauptansatz der Kritik, nämlich die Westintegration der Bundesrepublik, nicht nur durch den Kalten Krieg und die antikommunistische Frontstellung des Westens paralysiert wurde, sondern auch in unübersehbarem Widerspruch zu den allgemeinen wie den höchstpersönlichen wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Protagonisten selbst stand.
Bei dem hier beschriebenen Prozeß markierte nun das Jahr 1953 einen deutlichen Einschnitt. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen war im Oktober 1952 die neonationalsozialistische SRP verboten und damit eine erste Grenze der Tolerierungsbereitschaft von seiten der Republik gesetzt worden: Die explizite und vor allem öffentliche Zustimmung zur Politik und Ideologie des NS-Regimes war ausgegrenzt worden.[32]
Das zweite Signal setzten die Besatzungsmächte selbst, indem im Januar 1953 die Angehörigen des Naumann- und des Gauleiter-Kreises schlichtweg verhaftet und auf besatzungsrechtlicher Grundlage für mehrere Monate hinter Gitter gehalten wurden. Zwar entwickelte sich daraus kein Gerichtsverfahren, und die Beteiligten kamen allesamt bald frei, aber das mit diesem Schritt verbundene Signal war unübersehbar: Die stets vorhanden gewesene, aber mittlerweile beinahe schon verblaßte Interventionsdrohung der Westmächte war nachhaltig in Erinnerung gerufen, und eine weitere Grenze der Integrationsbereitschaft nach rechts war markiert worden: Die politische Betätigung ehemaliger Spitzennazis in explizit neonationalsozialistischem Sinne wurde als nicht toleranzfähig diskriminiert. [33]
Das dritte Signal wurde durch die Bundestagswahl vom Herbst 1953 gesetzt: Rechtsradikale Parteien errangen hierbei weniger als 1 Prozent der Stimmen und waren damit in die politische Bedeutungslosigkeit abgedrängt worden. Konrad Adenauer sah sich in seiner Politik gegenüber den ehemaligen Nationalsozialisten dadurch zu Recht bestätigt: Beinahe vollständige soziale und wirtschaftliche Reintegration unter der Voraussetzung der jedenfalls öffentlichen Bejahung der demokratischen Republik und des Verzichts auf neonationalsozialistische Betätigung.[34] Das Interesse der Angehörigen der ehemaligen NS-Eliten an politischer Aktivität in der neuen Bundesrepublik, soweit sie über die Rehabilitationsbestrebungen hinausgingen, war daher insgesamt eher gering. Um so bedeutsamer wurde dagegen die Frage, welche sozialen Perspektiven den einstigen NS-Eliten zu Beginn der 80er Jahre offenstanden. Für die Spitzen der Verwaltung, der Justiz und der Ministerialbürokratie war diese Frage relativ einfach zu beantworten: Unterhalb der Staatssekretärebene rückten sie beinahe vollständig wieder in die Behörden ein, was in manchen Ministerien die bemerkenswerte Folge hatte, daß im Jahre 1954 der Anteil der NS-Parteigenossen höher lag als im Jahre 1940. Insbesondere das Auswärtige Amt galt als Hochburg der "Ehemaligen".[35] So berichtete der stellvertretende französische Hochkommissar Bérard im September 1950, daß es sich bei mindestens der Hälfte der Mitarbeiter dieser Dienststelle um einstige Nationalsozialisten handele; davon allein 43 ehemalige aktive SS-Mitglieder und 17 frühere SD- und Gestapo-Mitarbeiter.[36] Damit verbunden aber war ein stets spürbarer Anpassungsdruck an demokratische Spielregeln, der allmählich um so leichter fiel, als die Bonner Republik nicht nur äußerst großzügig mit den alten NS-Eliten umging, sondern sich auch als ausgesprochen erfolgreiches Unternehmen erwies - warum sollte man sich da mit jenem gescheiterten Regime identifizieren, das den einzelnen ja auch persönlich die größte Niederlage ihres Lebens beigefügt hatte?
Das galt selbst für diejenigen ehemaligen vor allem mittleren Gestapo- und SS-Leute, die mittlerweile in zum Teil hohe Ränge der bundesdeutschen Polizei eingerückt waren und Mitte der 50er Jahre offenbar nicht wenige Polizeipräsidenten in den größeren Städten Westdeutschlands stellten. Gerade an diesen sensiblen Stellen waren die Geheimdienste der Westmächte sehr aufmerksam; aber sie berichteten übereinstimmend, daß zwar viele Ex-Nazis mittlerweile in hohen Positionen stünden, sich dort aber keinesfalls im nationalsozialistischen Sinne betätigten.
Für die erste Garnitur der NS-Eliten hingegen blieben Spitzenpositionen in der westdeutschen Politik und auch der westdeutschen Verwaltung, sieht man vom Justizbereich ab, bis auf wenige Ausnahmen verschlossen. Für sie blieben die freien Berufe und die Wirtschaft, in der Regel vermittelt durch alte, nicht selten bis in die Studienzeit zurückreichende Kontakte.
Da also die politische Stabilität und die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Westdeutschland den einstigen NS-Großen auch persönlich die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, respektive Wiederaufstieg, zu bieten schienen, war das Interesse an erneuter politischer Betätigung, insbesondere in rechtsradikalem Sinne, gering, zumal sich ihre eigenen Interessen auch insoweit durchgesetzt hatten, als die juristische Verfolgung von NS-Verbrechen seit 1953 praktisch zum Stillstand gekommen war. Je länger aber diese Entwicklung dauerte und je besser die eigene soziale Lage war, desto problematischer wurde die eigene Vergangenheit, weil daraus ein Bedrohungspotential für die neugewonnene bürgerliche Sekurität erwuchs. Die eigene Vergangenheit abzutarnen, ja möglichst ganz vergessen zu machen, um die neue Zukunft nicht zu gefährden, wurde daher zum vordringlichen Interesse. Ein möglichst unauffälliges, angepaßtes, normales Leben zu führen, auch die Kontakte zu ehemaligen Mitarbeitern (und Mitwissern) möglichst zu vermeiden und sich jeder politisch verdächtigen Äußerung zu enthalten, war die Konsequenz. Daß sie noch einmal eine zweite Chance erhalten würden, hatten die meisten von ihnen bei Kriegsende oder dann im Internierungslager nie für möglich gehalten. Also taten sie alles, um die unverhoffte und unverdiente Gunst der Stunde zu nutzen. Dieser Mechanismus führte im Ergebnis zu einer moralisch gewiß zweifelhaften, aber durchaus effektiven Einpassung von offenbar großen Teilen der NS-Eliten in den neuen deutschen Staat und seine Gesellschaft.
Betrachtet man diese Entwicklung aus der Perspektive der späten 60er Jahre, so kann man etwas vergröbert festhalten, daß die ehemaligen NS-Funktionäre nach einiger Zeit in etwa die soziale Position wieder erreicht hatten, die ihren klassenspezifischen Ausgangsbedingungen vor Beginn des Dritten Reiches bzw. ihrer sozialen Herkunft und ihrer Ausbildung entsprach. Während die (sich vorwiegend aus der milieuungebundenen Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum rekrutierenden) mittleren und zum Teil auch hohen Ränge von Partei und SA, teilweise auch der Waffen-SS, oft noch bis weit in die 50er Jahre hinein keine stabile wirtschaftliche Grundlage für sich erreicht hatten und dann im Zuge des Wirtschaftswunders ihr Auskommen auf höchstens mittlerem Niveau fanden, gelang außer den leitenden Ministerial- und Justizbeamten vor allem den ehemaligen Spitzen von Sicherheitspolizei und SD die Rückkehr in die Bürgerlichkeit auf zum Teil sehr hohem Niveau. Die Gründe dafür sind unschwer zu erkennen. Zum einen war über die Führungsstruktur der Sicherheitspolizei und ihre Tätigkeit in den besetzten Gebieten bis in die späten 60er Jahre in Deutschland wenig oder jedenfalls wenig Richtiges bekannt, was den einzelnen die Abtarnung ihrer Vergangenheit erleichterte. Mit dieser Entwicklung einher ging ein allgemeiner Prozeß der Abstraktion und Entsinnlichung der NS-Vergangenheit, der die Geschichte gewissermaßen ihres Personals und ihrer Orte beraubte, so daß man sich in der Öffentlichkeit sogar mit einigem Pathos gegen die vergangene Gewaltherrschaft aussprechen konnte, ohne sich mit konkreten Orten und wirklichen Menschen - weder den Tätern noch den Opfern - zu befassen.[37]
Vor allem aber überwog in der Führung von Sicherheitspolizei und SD der Typus des jungen, meist juristisch ausgebildeten Akademikers aus der Mittel- und Oberschicht, so daß es ausgerechnet dieser Kerngruppe der nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungspolitik binnen kurzem und in weitem Maße gelang, wieder Anschluß an das soziale Milieu zu finden, dem sie entstammten.[38]
Eine besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Formel von der „Anständigkeit“ zu. Daß jemand „dabei gewesen“, aber „dennoch anständig“ geblieben sei, wurde bald zum stereotypen Verweis, wenn die NS-Vergangenheit die berufliche oder politische Reputation eines Mannes zu beschädigen drohte. So reagierte zum Beispiel der FDP-Politiker Achenbach in den frühen 50er Jahren auf Kritik an seiner Beteiligung an der Vorbereitung der Deportationen der Juden aus Frankreich mit der Replik, daß er „anständig“ geblieben sei, seine Kritiker hingegen, darunter der wegen seiner Verbindungen zum 20. Juli als kompromitiert geltende Verfassungsschutzpräsident Otto John, „unanständig“ seien. In diesem Begriff der „Anständigkeit“ klang einerseits noch mit, was während der NS-Zeit zum Teil nur künstlich stilisiertes, zum Teil echtes und insgeheimes Verständigungskriterium der Eingeweihten gewesen war: Die Unterscheidung nach „Anständigkeit“ gab an, ob sich jemand hatte tatsächlich verbiegen lassen oder unterhalb der unvermeidlichen Pflichterfüllung einen geraden Sinn, Hilfsbereitschaft oder Menschenfreundlichkeit hatte erhalten können. Aber weil solche Unterscheidungen in Diktaturen eben nur innerhalb von Gruppen mit klarem, wenn auch nicht unbedingt explizitem Ehrenkodex präzise funktionieren, boten sie sich nach dem Kriege als preiswerte Selbsterhöhung förmlich an. Zudem schwang in diesem Begriff auch noch etwas anderes mit: das Motto der inneren Distanz - der emotionalen Unbeteiligtheit an dem Schrecklichen, an dem man mittat - , das während des Krieges auch bei den Anführern der Mordeinheiten eine so große Rolle gespielt hatte und insinuierte, selbst der an Verbrechen Beteiligte könne, wenn er nur die bürgerlichen Sekundärtugenden bewahre, „anständig“ bleiben. In diesem Sinne hatte auch Himmler 1943 das Ethos seiner Männer zusammengefaßt: Ihre historische Größe bestehe darin, daß sie das Unumgängliche taten und dabei dennoch „anständig“ geblieben seien.
Dieses Phänomen koinzidierte mit der sich durchsetzenden Auffassung von dem, was insbesondere im westdeutschen Bürgertum unter „NS-Verbrecher“ verstanden wurde. Schon Konrad Adenauer hatte im Jahre 1952 gegenüber deutschen Journalisten und zu anderen Gelegenheiten davon gesprochen, unter den in den alliierten Gefängnissen einsitzenden und in der westdeutschen Öffentlichkeit jetzt sogenannten „Kriegsverurteilten“ seien nur sehr wenige „wirkliche Verbrecher“, und bei diesen handele es sich vorwiegend um „Asoziale und Vorbestrafte“. [39] Nicht der Gestapo-Chef oder der Einsatzgruppen-Kommandant, sondern der SA-Schläger und KZ-Bewacher standen hier für das Bild vom NS-Verbrecher; und als konkretes Verbrechen wurde dann auch eher die antijüdischen Ausschreitungen während der „Kristallnacht“ verstanden als die im herkömmlichen Vorstellungsvermögen kaum konkretisierbare Massenvernichtung der Juden vier Jahre später. Dem womöglich promovierten Juristen jedoch, dem Massenerschießungen „im Osten“ vorgeworfen wurden, fehlten alle Eigenschaften, die zum hier vorherrschenden Bild eines „Verbrechers“ gehörten. [40]
Nun kann man dies gewiß als eine spezifisch bürgerliche Form der Abstoßung von Verantwortung und der Einsicht in den Charakter der nationalsozialistischen Verbrechen sehen. Aber diese Konstellation wirkte darüber hinaus. Selbst für Menschen, deren Ablehnung und Verabscheuung des NS-Regimes außer Frage stand, war die Verbindung zwischen den als abnorm und jeder Erfahrung gern wahrgenommenen NS-Verbrechen und dem als einstigen Gestapo-Stellenleiter enttarnten Kollegen oder Nachbarn nicht zu ziehen, weil die Ruchlosigkeit der Verbrechen und die Wohlanständigkeit des Nachbarn oder Kollegen nicht zueinander in Beziehung gebracht werden konnten.
Die Einsicht in dem hier zum Ausdruck kommenden Charakter des NS-Regimes und seiner Verbrechen hätte im Grunde die Infragestellung oder gar Selbstaufgabe der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland bedeuten müssen. Die Etablierung einer bürgerlichen Republik auf demokratischer Grundlage war in Deutschland daher zunächst vermutlich nur auf der Grundlage einer perzeptiven Verwandlung des NS-Regimes möglich, die eine Scheidung zwischen eigener Erfahrungswelt, als deren Kennzeichen Normalität und Kontinuität galten, und den NS-Massenverbrechen beinhaltete, jene Verbrechen, deren Existenz man nicht öffentlich bezweifelte, die aber doch als erfahrungsfern und als Produkt einer anderen Erinnerung, nämlich derjenigen der Sieger, apostrophiert wurden.
Die Phase der Rückkehr in die Bürgerlichkeit dauerte allerdings bei vielen ehemaligen Angehörigen der NS-Führung nur etwa ein gutes Jahrzehnt oder weniger, bis mit dem Eichmann-Prozeß in Jerusalem die internationale und auch die westdeutsche Öffentlichkeit der Rolle der Schreibtischtäter im RSHA gewahr wurden, bis mit dem Auschwitz-Prozeß das Ausmaß und die industrielle Form der Massenvernichtungspolitik vor Augen trat und mit dem Beginn der in Ludwigsburg koordinierten NS-Verfahren die einstigen NS-Eliten jäh aus ihrer Ruhe gerissen wurden.[41] Zwar gab es daraufhin verschiedene Versuche der Koordination, der Zusammenschlüsse oder Vereinbarungen unter den Betroffenen - und das am l. Oktober 1968 verabschiedete Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz, mit dem der sozialdemokratische Justizminister Heinemann düpiert und auf kaltem Wege beinahe unbemerkt die Mehrheit der NS-Verfahren, darunter fast alle RSHA-Verfahren, wegen der Verjährung der "Beihilfe" zum Einsturz gebracht wurde, ist vermutlich ein Ergebnis solcher Einflußnahme und Kontakte bis hinein ins Justizministerium.[42] Nur ein sehr kleiner Teil der von den Staatsanwaltschaften aufgespürten, vernommenen und beschuldigten NS-Täter wurde dann aber auch tatsächlich angeklagt, ein noch kleinerer auch verurteilt. Aber die zehntausende von Untersuchungen, Befragungen und Verhören führten bei den davon Betroffenen seit den frühen 60er Jahren doch zu ganz nachhaltiger Aufregung, weil das schon für sicher gehaltene Leben ohne Vergangenheit nun gefährdet war, und sie bis zu ihrem Lebensende in Furcht und Bangen vor der Entdeckung ihrer Vergangenheit, vor neuen Verfahren und vor ihrer Enttarnung in ihrem bürgerlichen Umfeld berharrten. Fälle wie die von Hagen, Lischka, Filbinger oder auch Best sind Beispiele dafür, und daß die private Korrespondenz. etwa zur Absprache von Aussagen bei Gericht, zwischen den ehemaligen NS-Spitzenfunktionaren nicht selten unter Postfach-Adressen geführt wurde, "damit die Kinder nichts davon erführen", ist ein Ausdruck dieser Entwicklung.[43]
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Auch Hans A. Engelhart hat 1984 einen 79 Seitenwitz gestartet.
Derartige Untersuchungen sind gut, waren aber leider auch damals zu spät.
Die Kinder derer sitzen ja wieder im gleichen Sattel und reiten das Volk.
Das soll keine Volksverhetzung sein und auch keine Sippenhaftung.
„Ja so war’s.“ - öffentliche Aussage eines Nazis.
„Man darf nicht anhalten bis auch der letzte Deutsche erkannt hat, dass Jurist sein eine Schande ist.“ Und alle Juristen und sonstige Dummköpfe klatschten Beifall.
Doch jetzt könnte eine Untersuchung über den nahtlosen Übergang der NS Presse in den bundesrepublikanischen Blätterwald beweisen, dort geschah es nicht anders!
Ich schlage einen Zündfunken:
„Der lustige Stellungswechsel“ von Karl Ude Vater von Christian Ude.
Jetzt werden bei der Süddeutschen Zeitung die Ohren aber rot.
Grüße aus Dobl
Antonius Theiler
Anhang:
Aus 20 Zeitungen, für die Karl Ude von 1933 bis 1945 als München-Korrespondent schrieb, hat der Münchner Autor Johann Türk circa 5.000 vor Mai 1945 erschienene Artikel von Karl Ude gesammelt. Nach Türk betreibt Karl Ude in 80 Prozent dieser Artikel „zum Teil üble NS-Propaganda“
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