Die Debatte um das Gedenken an den 8. Mai 1945 erfolgt auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung überwiegend aus westdeutscher Perspektive. Mit der Rede des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker setzte sich 1985 - also erst gut 40 Jahre später - das Narrativ vom Tag der Befreiung durch. Im Auge hatte man dabei vor allem die Bundesrepublik und weniger die DDR, obwohl auch dort das Narrativ von der Befreiung vorherrschte, wenn auch unter anderen Prämissen. In der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR galt dieses Narrativ bereits unmittelbar nach Kriegsende. Sinnbild dieser Erzählung war Josef Stalin beziehungsweise der Kult um seine Person. Der russische Historiker Dr. Alexey Tikhomirov hat den Stalinkult in der DDR eingehend untersucht. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Die Bevölkerung war aktiv am politischen Geschehen beteiligt"
L.I.S.A.: Herr Dr. Tikhomirov, Sie forschen zur Geschichte des Stalinismus und haben zuletzt ein Buch über den Stalinkult in Ostdeutschland vom Ende des Krieges bis zum Mauerbau geschrieben. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Dr. Tikhomirov: Es waren verschiedene Faktoren, die letztendlich zu der Wahl dieses Themas führten. Erstens mein persönlicher Hintergrund. Mein Großvater war Soldat der Roten Armee und feierte den Sieg im Mai 1945 in Budapest. Auf meine ewigen Fragen, wie es „dort“ – im Ausland – war, antwortete er immer mit einem Lächeln: „Ganz anders.“ Er erzählte davon, wie der Sieg verkündet worden war und auf den Straßen und Plätzen des halbzerstörten Europas rote Flaggen und Portraits von Stalin aufgehängt wurden. Einmal, als mein Großvater sich nostalgisch an die Tage des Siegesruhmes erinnerte, empfahl er mir, das sowjetische Filmepos „Der Fall von Berlin“ anzusehen. Die Schlussszene des Films zeigt die Landung eines Flugzeugs vor dem Reichstag in Berlin während der Siegesfeier im Mai 1945. Im Film öffnet sich die Tür des Flugzeugs und Stalin, in einer weißen Uniform mit Epauletten und Orden, steht persönlich als Generalisissimus vor der jubelnden Menge. Zwischen den wehenden Flaggen sind unzählige Stalinportraits zu sehen, die Menge ist begeistert und begrüßt den Sieger und Befreier der Welt vom Faschismus mit Ovationen. Die Frage, woher in Berlin in den ersten Tagen des Friedens so viele Stalinanhänger kamen, hat mich bis zum Beginn der Arbeit in deutschen Archiven nicht losgelassen.
Das Zweite ist, dass ich eine sowjetische Schule besucht habe und meine einzige Fremdsprache Deutsch war. Unsere Lehrerin hat uns erzählt, dass das keineswegs Zufall war. Zu dieser Zeit war die DDR der „Freund der Sowjetunion”, „unser Westen” und „das gute Deutschland”, also moralisch rein und vollkommen gesäubert von allen faschistischen Erscheinungen. Einmal erinnerte ich mich an den Film und fragte im Deutschunterricht, was die Deutschen von Stalin hielten. Diese Frage blieb unbeantwortet, aber meine Deutschkenntnisse haben mir geholfen, meiner Neugier weiter nachzugehen.
Drittens studierte ich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre an einer russischen Universität. Diese Periode vor Putin war in Folge der Perestrojka die Zeit der größten Meinungsfreiheit im Bezug auf Ideologien in Russland. Die Entlarvung ehemals sakraler politischer Führer war überhaupt nichts Besonderes. Zeitungen, Fernsehen und Radio sprachen von der Pflicht „die historische Wahrheit” zu finden, auch wenn sie bitter für Russland sein könnte. Gleichzeitig war es eine Zeit, in der das Widerstandssubjekt entdeckt wurde, nämlich als den HistorikerInnen mit der Öffnung der Archive klar wurde, dass die Bevölkerung nicht nur Opfer der staatlichen Gewalt gewesen war, sondern viel mehr aktiv am politischen Geschehen beteiligt gewesen war, indem es das Regime durch persönliche Ängste, Interessen und Erwartungen wahrnahm, interpretierte und sich ihm widersetzte. Als ich mein Promotionsstudium begann, nahm ich mein Recht auf wissenschaftliche Autonomie bald wahr und wählte als Thema die Figur Stalins in der öffentlichen Meinung in Ostdeutschland. Dank einiger Stipendien, unter anderem von der Gerda-Henkel-Stiftung, konnte ich das Thema ausweiten und vertiefen. 2014 wurde die Arbeit schließlich in russischer Sprache im Verlag Politischeskaja Enziklopedija in der Reihe „Die Geschichte des Stalinismus“ veröffentlicht.