"Der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs war noch weit entfernt, da warnte ein britischer Fernsehjournalist im Januar 2014: „Nur ein kompletter Idiot“ könnte einen Kriegsanfang „feiern.“ So weit ist es bisher auch noch nicht gekommen. Ende Juli/Anfang August wird man mehr wissen.
Kriegsfeierstunden gab es also nicht, aber eine Flut von Gesamtdarstellungen des Ersten Weltkriegs – meist Wälzer von mindestens 800, öfters auch über 1000 Seiten. Einer ragt heraus wegen seines Erfolgs. Der in England lehrende, australische Historiker Christopher Clark landete in Deutschland einen Bestseller mit seinem Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (Deutsche Verlagsanstalt). Es verkaufte sich bislang etwa 160 000 Mal, obwohl es im Wesentlichen nur wiederholt, was der britische Außenminister Lloyd George schon vor 90 Jahren behauptete: Europa sei in den Krieg „hineingeschlittert.“ Das ist eine dem Forschungsstand gegenüber anachronistische These zur politischen Verantwortung für den Kriegsausbruch, an der die Eliten in Berlin und Wien zweifellos den größten Anteil tragen.
Auch das Buch des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler „Der große Krieg. Die Welt 1914-1918“ (Rowohlt Verlag) erzielte eine hohe Auflage, dank viel Lob von „Kritikern“ und starkem Rückenwind durch Selbstdarstellungen des Autors in Gefälligkeitsinterviews auf vielen Kanälen.
Der Erfolg beider Bücher erklärt sich zum Teil auch aus dem Bedürfnis der politischen Selbstentlastung deutscher Nachgeborener vom eingebildeten oder tatsächlich empfundenen Druck, ihre Großväter hätten den Zweiten und ihre Urgroßväter den Ersten Weltkrieg „verschuldet“. Eine über Generationen „vererbte Schuld“ ist allerdings ein ebenso seichter Gedanke wie eine Kollektivschuld oder eine kollektive Identität. Schulden kann man vererben, Schuld nicht. Die ernstzunehmende historische Forschung spricht – im Gegensatz zum § 231 des Versailler Vertrages – seit Fritz Fischers Studien in den 60er Jahren nicht mehr von der deutschen Kriegs- oder Alleinschuld, sondern rechnet der deutschen Führung wörtlich „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges“ (Fritz Fischer) zu. Der kategoriale Unterschied zwischen „Schuld“ und „Verantwortung“ wurde von den meisten deutschen Rezensenten einfach ignoriert. So lässt es sich herumschwadronieren über „Schuldstolz“ oder die „Tradition der deutschen Selbstbezichtigung“ (Gerd Krumeich).
Münklers Buch ist in zweifacher Hinsicht beachtlich. Die Synthese aus einem riesigen Berg von Literatur durch einen Nicht-Historiker ist eine Leistung, die Anerkennung verdient, obwohl Münkler am Thema scheitert. Beachtlich ist auch sein Umgang mit Teilen der der Literatur sowie einige methodische Pirouetten. Dass Münkler den Arbeiten Fritz Fischers in mehreren Interviews die Zulassung als Proseminararbeiten absprach, spricht für das Überleben deutsch-professoraler Hybris, wie sie bei wilhelminischen Flottenprofessoren und eitlen Salonlöwen wie Werner Sombart üblich war.
Münklers methodischer Hinweis, er wolle der historischen Forschung eine „politiktheoretische Analyse“ unterlegen, erweist sich als banale, oft wiederkehrende „Was wäre, wenn“-Fragerei im Stil von Sandkastenspielen in Generalstabskursen. Viele Seiten füllt Münkler mit hypothetischen Erwägungen darüber, was herausgekommen wäre, wenn österreichische Truppen da oder dort im März statt erst im Mai angegriffen hätten oder russische Verbände im Süden statt im Norden vorgerückt wären. So bietet die „politiktheoretische“ Verstrebung der historischen Analyse nur einen Blick in die Scheinwelt kontrafaktischer Geschichtsspekulationen oder in alte Militärgeschichtsschreibung. Münkler räumt ein, dass es „im einen Fall ein Zuviel, im anderen ein Zuwenig an Wissen“ war, das Militärs und Politik zur Verfügung stand für ihre Entscheidungen. Das bedeutet freie Bahn für jeden Zufall, und der Leser fragt sich, wie ausgerechnet eine „spieltheoretisch begründete Inhaltsanalyse“, von der Münkler viel hält, in der Lage sein sollte, zufälligen Konstellationen geschuldete Entscheidungen „auf ihre ‘Rationalität‘ hin (zu) analysieren und (zu) bewerten.“ Mit Münkler kann man „die Wirkmacht des Zufalls“ in der Geschichte betonen, ohne gleich den subalternen, nationalistisch verhetzten Attentäter von Sarajewo zur „wichtigsten Person des 20. Jahrhunderts“ zu küren. Geht’s auch etwas leiser?
Zum Krieg drängten im Kaiserreich Dynamiken und Interessenkartelle von der riskanten deutschen Flottenrüstung gegen England bis zu den Interessen der Stahlbarone an Saar, Rhein und Ruhr, ganz zu schweigen vom Herrschaftsanspruch der konservativen Eliten, die außer der Verteidigung ihrer Besitzstände und des Dreiklassenwahlrechts in Preußen nur für eines einstanden: die Bekämpfung der Sozialdemokratie und ihrer Emanzipationsansprüche. Von all dem ist in Münklers „politiktheoretischer“ Erweiterung quellengestützter Argumentation Buch sozusagen nichts zu lesen. Sein spekulativ-empiriefreies Abrakadabra wird nicht plausibler, wenn es wissenschaftlich kostümiert die mediale Bühne betritt und schlüssige Gründe in der Garderobe lässt oder durch Pathos ersetzt.
Münkler vertraut auf die „politische Urteilskraft und pragmatische Nüchternheit“ Max Webers in seinen drei letzten Lebensjahren. Zuvor war Weber von seiner Antrittsvorlesung von 1895 bis 1916 bekanntlich vom Scheitel bis zur Sohle Nationalist und Kriegshetzer, der noch 1916 „die Weihe des deutschen Krieges“ beschwor und auf den irrwitzigen Ansprüchen eines „Herrenvolkes“ bestand. Erst 1917, angesichts der absehbaren Niederlage des deutschen Militarismus und Imperialismus, entdeckte Weber die politische Irrationalität und propagandistische Verhetzung der wilhelminischen Gesellschaft, die er als Infantilität völlig missverstand und ausgerechnet mit der Gesinnungsspritze „Verantwortung“ kurieren wollte.
Man kann sich bei Weber damit trösten, dass seine späte Teileinsicht besser ist als gar keine Einsicht. Die Führung des Kaiserreichs dagegen setzte als stärkste Macht in Kontinentaleuropa auf die Devise des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, „lieber jetzt als später“, und damit auf einen Krieg, in dem zuerst Frankreich im Sturm überrannt und dann Russland ausgeschaltet werden sollte. Dieselbe strategische Überlegung zum Präventivkrieg des Generalstabschefs Hellmuth von Moltke d.J. („je eher, desto besser“) bagatellisiert Münkler zur „hypothetischen Aussage“. Er will damit die wilhelminischen Militärs von der Verantwortung für den Krieg entlasten. Münkler folgt der veralteten Darstellung von Peter Graf Kielmansegg, der Bethmann Hollwegs Nähe zur Frieden-durch-Sieg-Parole als „taktisch“ bedingt einstufte. Am international unbestrittenen Forschungsstand kann aber auch Münklers Verharmlosungsgerede nichts ändern. Er hält – gegen alle Quellen – daran fest, dass Bethmann Hollwegs Risikopolitik „durchaus verantwortbar“ war, „zumindest so lange man davon ausgehen konnte, dass die anderen Akteure den Rationalitäten folgten, die in Berlin als für sie maßgeblich unterstellt wurden.“ Prächtige „Rationalitäten“! Zumindest kühn und durch keine Erfahrung gedeckt ist es, „Rationalität“ ausgerechnet bei Regierungen und Generalstäben zu vermuten. Diese „Rationalität“ bestand im Kern in der grundschularithmetischen Milchmädchenrechnung, dass die Kriegsaussichten Deutschlands stiegen, wenn die Briten auf dem Kontinent nicht mitmischten und die USA dort blieben, wo sie waren – weit weg.
Mit einem schlichten Zahlen-Hokuspokus in der Tradition ökonomistischer Kriegsarithmetiker möchte Münkler den deutschen Militarismus als eine wichtige Kriegsursache aus der Welt schaffen: Der den Anteil der Soldaten an der Gesamtbevölkerung betrug 1906 in Deutschland 0,47 Prozent, in Frankreich dagegen bei 0,75. Derlei besagt gar nichts, denn 1914 hatte die französische Armee die zu vernachlässigende “Übermacht“ von ganzen 20 000 Soldaten, aber in keinem Land war der Militarismus gesellschaftlich und mental so tief verankert wie im Kaiserreich. Bücher des Historikers Wolfram Wette, der über Militarismus viel forschte, stehen zwar in Münklers üppiger Bibliographie, spielen aber in seiner Argumentation keine Rolle.
Münkler exkulpiert nicht nur den angeblich nur eingebildeten „preußischen Militarismus“, sondern meint, „die Alldeutschen“, d.h. die Rechtsradikalen im Kaiserreich, „müssten immer wieder als Beleg für die These herhalten, das Deutsche Reich sei eine aggressive Macht gewesen“, so als ob es nicht Legionen von Universitätsprofessoren und Reserveoffizieren gegeben hätte, die 1914 in Zeitungen und Büchern Kriegsziele und Annexionspläne entwarfen. Sie appellierten an die „Opferbereitschaft“ und beschworen vom Katheder herab den Krieg als „Verheißung auf den nahenden Tag des Deutschen“ (Karl Natorp). Münkler verniedlicht dieses kriegshetzerische Geheul großer Teile der deutschen Professorenschaft und des Bildungsbürgertums zum subalternen „Stimmengewirr“.
Über weite Strecken liest sich Münklers Buch wie ein Entwurf zu einer geschichtspolitischen Revision im Sinne einer Wende rückwärts in ein wilhelminisch-deutschnational imprägniertes Geschichtsbild. Einige Stichworte dazu müssen genügen: Wilhelm II. ist für Münkler „in vieler Hinsicht doch ein eher am Frieden orientierter Herrscher gewesen “. John C.G. Röhls monumentale Wilhelm-Biografie, die genau das Gegenteil belegt, verspottet Münkler als „umfänglich“ und „voluminös“. Alfred von Tirpitz, der Architekt der deutschen Schlachtflotte, der maßgeblich am Rad drehte, das den Krieg unausweichlich machte, forderte für Münkler „nur“ einen „Anteil an der Weltherrschaft ohne Krieg“. Der Berliner Professor rät dem Großadmiral Tirpitz posthum, er hätte sich statt auf große Schlachtschiffe besser auf schnelle Kreuzer, U-Boote und Torpedos verlegen sollen. Pech nur für den Spätgeborenen, dass Tirpitz partout den Seekrieg, die „große Schlacht“ und die Teilhabe an der „Weltmacht“ obendrein wollte und nicht Münklers popelige Flotte für die „küstennahe Defensive“. Auch das nach 1989 neudeutsch angereicherte Selbstbewusstsein beseitigt historische Fakten nicht.
Aus der Binsenwahrheit, dass der Politik aller Großmächte „imperialistische Motive“ zugrunde lagen, saugt Münkler die apologetische Verharmlosung, „Präventivkriege“ gehörten nun einmal zu den „selbstverständlichen Optionen eines Staates“ und die „Probleme und Herausforderungen der Mittellage“ hätten halt Entscheidungen erzwungen. Und wo nicht einmal grobianische Kurzschlüsse von der Geografie auf die Politik überzeugen, wechselt Münkler ins noch trübere Fach der Küchenpsychologie. Dieser zufolge beförderte Zeitdruck „irrationales Agieren“ und ein aus guten militärischen Gründen gebotener Rückzug verbietet sich wegen der „Psychologie des Krieges“, die ein Heidelberger Kriminalpsychologe 1927 erfunden hat, um den Ersten Weltkrieg vergessen zu machen und dem Zweiten den Weg zu ebnen. Münklers eigene Kriegspsychologie geht so: „Was bei den Franzosen zu Widerstand und Empörung geführt hatte, mündete bei den Briten in Niedergeschlagenheit.“ Bei den Deutschen dagegen herrschte die „Sinnerfahrung des Weiterkämpfens“, die Münkler mit der Hilfe Ernst Jüngers entdeckt. Das sind keine Argumente, sondern Mätzchen für den Veteranen-Stammtisch.
Eine Kernthese Münklers lautet: „Deutschland hat den Krieg verloren, weil seine politische und militärische Elite die Paradoxie militärischer Politik nicht begriffen hat.“ Eine Paradoxie will Münkler darin erkennen, dass militärisch geprägte Politik im Gefecht Siege erringen müsse, aber sich danach bei Friedensverhandlungen zurückzuhalten habe. Warum diese Paradoxie für Deutschland „eine größere Herausforderung“ bedeutete als „für die Staaten der Entente“, leuchtet nicht ein. Gegen den Schluss des Buches stellt der Autor den Ersten Weltkrieg als „Herrschaft der Paradoxien“ vor, d.h. er dehnt den Begriff der Paradoxie aus und meint, im Krieg verkehrten sich generell Absichten der Handelnden und Wirkungen ihres Handelns, so wie im Alltag gute Absichten Böses zeitigen können. Der Begriff Paradoxie wird zum argumentativen Universalschlüssel für alle Lebenslagen. Historisch konkretisiert: „Paradoxietheoretisch“ gesehen war die politische Führung Deutschlands nicht zu einem Verständigungsfrieden bereit, weil sie „ohne Annexionen und Reparationen die Erwartung der unteren Schichten auf soziale Besserstellung“ enttäuscht hätte. So wird – nach Münklers Paradoxie-Lehre – nicht etwa die faktische Diktatur der Obersten Heeresleitung, der die politische Führung folgte, für das Desaster und die Niederlage verantwortlich gemacht, sondern das einfache Volk mit seinen berechtigten sozialen Emanzipations- und politischen Gleichberechtigungsansprüchen. Gewiss nicht aus Rücksicht auf Ansprüche des einfachen Volkes verweigerte sich Berlin einem Verständigungsfrieden, sondern aus Wohlwollen zu und Interessenkumpanei mit jenen großbürgerlichen und bürgerlichen Eliten, die mit ihren Kriegsanleihen den Krieg finanzierten und zugleich an ihm verdienten. Gegen soziale und politische Ansprüche des Volkes kannte Wilhelm II. bis zuletzt nur ein Mittel: „meine Maschinengewehre“.
Mit großem Aufwand widmet sich Münkler der Beschreibung der Materialschlachten mit neuen Waffen (Maschinengewehr, Handgranaten, Gas, Flugzeuge, Panzer) und Taktiken (Stacheldraht, Schützengraben). Neben informativen Passagen geht es ihm dabei auch um die Rehabilitation von Heldenbildern, denn für ihn „ist wohl kein Krieg vorstellbar, der ohne Helden auskommt.“ Ein Gewährsmann für die Arbeit am Mythos des heroischen Frontkämpfers ist für Münkler Ernst Jünger mit seinem „Kriegstagebuch“ und den – situativ angepassten – sechs Versionen der „Stahlgewitter“. Den wendigen Kriegserzähler macht Münkler zum Zeitzeugen.
Diese Ambivalenz ist an vielen Stellen des Buches auch sprachlich wahrnehmbar. Der Leser fühlt sich oft ins wilhelminische Offizierskasino versetzt, wenn „die“ Franzosen „in der Flanke gepackt und schwer geschlagen“ werden, oder wenn es gilt, „die Russen im Rücken (zu) packen und (zu) zerschlagen. Auch in der Darstellung der Metzelei am Isonzo ersetzt der Euphemismus „packen“ das Wort „töten“. „Die Kultur des Schützengrabens“ entdeckte angeblich Granat- und Minenwerfer als „Kommunikationsmittel“. Am 22.9.1914 versenkte ein deutsches U-Boot drei britische Panzerkreuzer mit mindestens 1400 Mann Besatzung. Otto Weddingen, der deutsche Kommandant: „Wir können uns freuen, dass das Kriegsglück uns solche Gelegenheit gegeben hat, Seegeschichte zu machen.“ Münkler verbucht das Ereignis als „überraschenden Erfolg“ und „sicherlich keine Katastrophe“ für die Briten. Sprachlich bewegt er sich oft auf dem Niveau von Landserheftchen-Prosa.
Angesichts der ausufernden Beschreibung von Schlachten, militärischen Taktiken, Strategien und Sandkastenspielen sowie angesichts der geopolitischen Kaffeesatzleserei und leitartikelnder Spekulationen in allen Preislagen wundert sich der Leser nicht, dass pazifistische Autoren wie Alfred Hermann Fried, Arnold Zweig oder Edlef Köppen, die 1914 und danach den Krieg nicht begrüßten, aber genau beobachteten und analysierten bei Münkler fast gar nicht vorkommen. Ebenso unterbelichtet bleibt in Münklers Darstellung das soziale und ökonomische Fundament des Krieges. Derlei störte wohl das Revisionsvorhaben nur."