Für mein Forschungsprojekt, das sich mit der Transformation von Kulturräumen in Westmexiko im 16. Jahrhundert beschäftigt, hat es mich zu Beginn 2015 für drei Monate in den Bundesstaat Michoacán im Westen von Mexiko verschlagen und diesmal „pendelte“ ich zwischen den beiden Städten Zamora und Morelia hin und her.
Von Geschichten und Geschichte. Forschen zwischen Vulkanen, Kirchen und Pyramiden
Reisebericht der a.r.t.e.s.-Doktorandin Ana-Laura Lemke
Beide Städte könnten, obwohl sie nur 200 km auseinander liegen, nicht unterschiedlicher sein. Erstere liegt in einem Talkessel; bereits ab April ist es heiß, staubig und trocken und außer einem kleinen historischen Kern gibt es sonst nur – irrwitziger Weise trotz der Trockenheit – Erdbeerfelder bis zum Horizont. Letztere, in einer von Vulkanen umgebenen, grünen, fruchtbaren Hochebene gelegen wo es auch im Sommer angenehm kühl, sogar frostig bleibt, ist eine imposante alte Kolonialstadt, mit viel studentischem und kulturellen Leben.
Während ich in Zamora vor allem an der Forschungseinrichtung Colegio de Michoacán Bücher wälzte und mich in Vorträgen und Tagungen mit anderen Forscher*innen austauschte, suchte ich in Morelia die umliegenden Archive, Kirchen, Kloster und natürlich auch Pyramiden auf. Aber das wirklich Faszinierende für mich in Michoacán ist, dass die Suche nach der Geschichte der Region nicht nur etwas Abstraktes ist, das in Archiven in alten vergilbten Dokumenten und zwischen den Steinen der vorspanischen oder frühkolonialen Bauten versteckt liegt, sondern dass man sie alltäglich auf den Straßen und Märkten, im Bus dicht aneinander gedrängt, beim Einkaufen oder am Sonntag auf der Plaza erlebt. Es drückt sich in den sprachlichen Besonderheiten, im Singsang der indigenen Sprache, der Kleidung, der Art des Umgangs miteinander, den Speisen und Getränken und sogar im Lachen und Diskutieren aus.
Die erzählten Geschichten sind dabei ebenso wichtig wie jene, die ich über Quellen und Textbücher zu rekonstruieren versuche: So etwa die des Käseverkäufers auf dem Markt, der sich darauf beruft er würde in direkter Linie vom letzten vorspanischen Herrscher Tanganxoan abstammen. Oder die Gemeinde Cherán, die sich bis heute auf ihre traditionellen Wurzeln bezieht und ihr Recht einfordert, sich nach ihren eigenen „usos y costumbres“, also gemäß ihrer indigenen Gewohnheiten und Traditionen, autonom zu regieren – und mit dieser Forderung Erfolg hat. Oder nicht zuletzt jene des Hobbyhistorikers, der sich sicher ist, in den alten Steinhieroglyphen den Beweis gefunden zu haben, dass die P’urhépecha (die größte indigene Gruppe der Region) mit Weltraumschiffen auf die Erde gekommen seien.
Zurück in Deutschland bleibt mir nun die Erinnerung an die gehörten Geschichten einerseits und die Geschichte in den Archivquellen andererseits. Mit jeder Seite die ich transkribiere fügen sich Lebensdaten, Schicksale, Kurioses und das Drama des Alltäglichen aneinander: Der Spanier, der Lesen lernen wollte und dafür mehr bezahlte als damals ein Stück Land wert war; der Nachfahre des vorspanischen Herrschers der mit einer langen Liste unbezahlter Bücher bei einem Buchimporteur in der Kreide stand; die Empörung einer Dorfgemeinde darüber, mehr Abgaben zahlen zu müssen als die Nachbarn und irgendwo dazwischen eine junge spanische Frau aus gutem Hause, die sich mit einem Sohn von Tanganxoan verheiratete und den gleichen Nachnamen trägt wie mein Käseverkäufer...