Der Kapitalismus als Wirtschaftsform hat eine lange Geschichte. Aber verstanden und begriffen als alles umfassende Lebensform bzw. als kulturelles Phänomen, das ist noch relativ neu. Oft ist in diesem Zusammenhang vom Neoliberalismus die Rede, der in seinem jüngeren Verständnis sowohl die ökonomischen als auch die kulturellen Aspekte des Kapitalismus umschließt. Dieses umfassendere Verständnis von Kapitalismus liegt auch der aktuellen Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle "Wir Kapitalisten" zugrunde, die die L.I.S.A.Redaktion zuletzt besucht hat, um anschließend mit den Kuratoren Dr. Wolfger Stumpfer und Henriette Pleiger ein Interview zu vereinbaren. Wir wollten vor allem wissen, warum ihnen eine Ausstellung zum Kapitalismus geboten schien und welche Eindrücke sie ihrem Publikum zu vermitteln hoffen.
"Viele Menschen erhoffen sich eine Mäßigung des Systems und seiner Extreme"
L.I.S.A.: Die Bundeskunsthalle teilt nach der Wiedereröffnung der Ausstellung mit, diese sei aktueller denn je. Warum gerade jetzt eine Ausstellung zur Geschichte des Kapitalismus? Was hat Sie dazu bewogen? Und galten die Voraussetzungen auch schon vor der Coronakrise?
Dr. Stumpfe: Die Ausstellung war schon seit mehreren Jahren geplant, das Zusammentreffen mit der Corona-Krise ein Zufall. Insofern beschreibt die Ausstellung nichts, was spezifisch für die momentane Krisensituation wäre, sondern typische, allgemeingültige Verhältnisse und Wirkungen im Kapitalismus.
Pleiger: Dennoch ist es bemerkenswert, dass wir in der gegenwärtigen Krise etwas erlebt haben, das kaum möglich schien, nämlich den annähernden Stillstand des Systems. Der beängstigende Zustand des Lockdowns hat viele von uns über diese „allgemeingültigen Verhältnisse und Wirkungen im Kapitalismus“ zum Nachdenken gebracht. Unsere Einstellung scheint sich durch die Krise zumindest ein wenig verändert zu haben, da sich viele Menschen eine Mäßigung des Systems und seiner Extreme erhoffen. Insofern sehe ich unsere Ausstellung auch als einen sehr zeitgemäßen Kommentar zu einer aktuellen Debatte.