L.I.S.A.: Kritiker werfen Clark in dessen „Serbienkapiteln- bzw. -passagen“ vor, dass er die Serben mit einem eher pejorativen Vokabular bedenke. Für ihn seien die Serben vor allem rückschrittlich, ungezähmt, verschlagen, gewalttätig, terroraffin, hinterlistig etc. Des Weiteren der Vorwurf, man finde bei Clark nur wenig Sympathie bis Verständnis für die serbische Position. Lesen Sie das auch so?
Prof. Sundhaussen: Clark spricht in der Regel nicht über „die“ Serben und ihre vermeintlichen Eigenschaften, sondern er beschäftigt sich mit einflussreichen Akteuren aus Politik, Armee, Geheimdienst und der Untergrundorganisation „Vereinigung oder Tod“ bzw. „Schwarze Hand“. Er unterstreicht die Gewaltbereitschaft einzelner Akteure, v.a. unter den Mitgliedern der „Schwarzen Hand“, - eine Gewaltbereitschaft, die durch viele Quelle zweifelsfrei belegt ist. Clark hat keine Geschichte Serbiens schreiben wollen, sondern sich auf jene Ereignisse konzentriert, die aus seiner Sicht für die dramatische Zuspitzung der Feindschaft zwischen Österreich-Ungarn und Serbien und die explosive Situation am Vorabend des Weltkriegs verantwortlich waren: der Königsmord in Belgrad von 1903, die bosnische Annexionskrise von 1908/09, die Balkankriege von 1912/13 und das Attentat von 1914. Durch die Fokussierung auf diese Ereignisse (unter Ausklammerung anderer Aspekte) kann bei vielen Leserinnen und Lesern in der Tat ein pejoratives Serbienbild entstehen. Der Königsmord von 1903 z.B., der zu einem Dynastiewechsel und zur Umorientierung der serbischen Außenpolitik (weg von Österreich-Ungarn, hin zu Russland) führte, war zweifelsohne ein wichtiger Meilenstein in der Verschlechterung des österreichisch-serbischen Verhältnisses. Dass Clark sein Buch damit beginnt, ist plausibel. Man kann darüber streiten, ob es zum Verständnis dieser Entwicklung notwendig war, die (Emotionen schürenden) Details des äußerst brutalen Königsmords auszubreiten. Dass Clark dies getan hat, lässt sich durchaus als Voreingenommenheit deuten.
Aber die Tatsache, dass die Königsmörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass der Chef der „Schwarzen Hand“, Dragutin Dimitrijević (Apis), weiter Karriere machte, dass er ungehindert seinen konspirativen Aktivitäten nachgehen konnte usw., usf. wirft ein bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse im damaligen Königreich Serbien. Dass Clark die national(istisch)e Befreiungsrhetorik (über die Köpfe der zu „befreienden“ Menschen hinweg), die Brutalität der paramilitärischen Banden in den Balkankriegen, die mangelnde Kooperationsbereitschaft serbischer Behörden bei der Aufklärung der Hintergründe des Attentats von 1914 an den Pranger stellt, ist nachvollziehbar. Dass die nationale Euphorie und Kriegsbegeisterung in Serbien allerdings kein serbisches Phänomen war, hat er an vielen Stellen seines Werkes deutlich gemacht.
Clarks Werk ist auch als Antwort auf die Arbeiten der „Fischer-Schule“ zu lesen. In Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ von 1961 taucht der Name des Attentäters von Sarajevo, Gavrilo Princip, auf 700 Seiten nicht ein einziges Mal auf. Nicht einmal eine Fußnote war er wert. Und der Name des damaligen serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pašić fällt lediglich einmal und eher beiläufig. Fischers Darstellung war ganz auf die Großmächte, allen voran auf das Deutsche Kaiserreich fokussiert. Das mag sinnvoll und notwendig gewesen sein, um den Prozess der Selbstreflexion in Deutschland in Gang zu setzen. Aber wissenschaftlich befriedigend war es nicht. Denn damit wurde ein Schwarz-Weiß-Schema befestigt, das nahezu manichäischen Charakter hatte: Hier die Guten, dort die Bösen.
Zu den Guten, die zugleich Opfer waren, gehörten auch die kleineren Staaten, zumindest diejenigen, die auf der „richtigen“ Seite gestanden hatten. Dass es auch in den kleineren Staaten Politiker, Militärs und Ideologen gab, die die Welt nur durch einen nationalistischen Filter wahrnahmen, die eine expansive Politik betrieben und beseelt waren von einer „Zivilisierungsmission“ gegenüber „minderwertigen“ Bevölkerungsgruppen in den Gebieten, die sie für sich beanspruchten, fiel unter den Tisch. Nicht nur die Vertreter der europäischen Groß- und Kolonialmächte sahen sich in die Pflicht genommen, - auch die Eliten kleinerer Staaten (z.B. des postosmanischen Griechenland oder des postosmanischen Serbien) waren von der „Zivilisierung“ der „Orientalen“ in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft überzeugt. In dieser Hinsicht gab es keinen Unterschied zwischen Großmächten und Kleinstaaten, imperialen und postimperialen Regimen. „Die Sprache von Zivilisation und Zivilisierung“, so Jürgen Osterhammel, „war das dominierende Idiom des 19. Jahrhunderts.“
Clark hat in seinem Werk also die Perspektive erweitert. Und das ist nicht weniger sinnvoll und notwendig als die Fischer-Kontroverse in den 60er Jahren.