Die Deutsche Akademie der Naturforscher "Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften", kurz auch (Academia) Leopoldina, hat gesprochen. In ihrer dritten Ad-hoc-Stellungnahme zur COVID-19-Pandemie mit dem Titel „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ behandelt sie in eigenen Worten "die psychologischen, sozialen, rechtlichen, pädagogischen und wirtschaftlichen Aspekte der Pandemie und beschreibt Strategien, die zu einer schrittweisen Rückkehr in die gesellschaftliche Normalität beitragen können." Die Politik scheint darauf gewartet zu haben, denn Kanzlerin Merkel ließ bereits im Vorfeld verkünden, wie wichtig ihr diese Studie sei, um nun entscheiden zu können, was als nächstes mit Blick auf Schulen, Geschäfte, Restaurants und Sportanlagen zu tun sei. Den 26 Experten der Akademie kommt damit großer Einfluss zu - zu großer? Das fragen Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamem CoronaLogBuch ihre Gäste Paula-Irene Villa Braslavsky und Patrice G. Poutrus.
"Ich halte eine kritische Begleitung von Politik in jeder Situation für zwingend"
Chatzoudis: Ich würde gerne zu Beginn und nach unserer kurzen Osterpause einen Kommentar aufnehmen, den ein Leser des LogBuchs, Herr Erich Katterfeld, gestellt hat. Er schreibt mit Blick auf die von uns schon thematisierte Mentalität im Umgang mit "social distancing", dem Befolgen von einschränkenden Maßnahmen etc. - ich zitiere: "Die dritte mögliche Verhaltensweise, nämlich die Ablehnung gegenüber den staatlichen Maßnahmen, des "patriarchalischen" Tones der Politik (die Bürger verhalten sich größtenteils brav) oder der vorgelegten Zahlen und Schlussfolgerungen, kommt in dieser Diskussion leider zu kurz und wäre sicher einer eigenen Betrachtung wert. Ist das nicht ein notwendiges Korrektiv gegen allzuviel "Durchgreifträume" der Politik, die unter der Coronaebene etliche Dinge wie Waffenexporte, Defender 2020 etc. durchwinken kann?" Können wir diesen Punkt bitte zunächst aufnehmen und darauf eingehen?
Villa Braslavsky: Das ist ein wichtiger Hinweis. Wir hatten in den letzten Beiträgen verschiedentlich betont, dass die kritischen, auch "ablehnenden" Stimmen in der medialen Debatte präsent sind. Und dass dies auch richtig und wichtig ist. Ich nehme die Diskussionen insgesamt so wahr, dass auch diese kritischen Stimmen vorkommen, und durchaus auch politisch relevant werden. So zum Beispiel bei den allzu scharfen und unsinnigen Praktiken der Polizei - Stichwort: "Parkbank".
Chatzoudis: Wie aber werden diese Gegenstimmen medial aufgenommen? Welchen Einfluss haben Sie wirklich? Korrigieren sie was?
Poutrus: Ich halte eine kritische Begleitung von Politik in jeder Situation für zwingend. Allerdings ist das für mich etwas Anderes als ein notwendiges Korrektiv.
Zimmerer: Aber wo die Begleitung zustimmend ist, ist ein Nicht-Gehört-Werden-Können nicht so essentiell wie eine kritische Begleitung.
Poutrus: Ich kann nicht erkennen, dass die Kritik nicht gehört wird. Allerdings meint "nicht gehört werden" leider auch "Ihr hört nicht darauf, was ich richtig finde."
Villa Braslavsky: Es ist schwer, genau zu fixieren, was wie politisch genau ankommt. Aber, wie gesagt, bestimmte Praktiken der Überwachung aktueller Maßnahmen werden meines Erachtens schon entlang von Diskussionen dazu angepasst. Auch die Kritik an der Aussetzung von Grundrechten ist deutlich wahrnehmbar und diese Aussetzung wird politisch hierzulande massiv als problematische vorübergehende Ausnahme gerahmt.
Zimmerer: Aber Aussetzen von Grundrechten wird immer und überall als vorübergehend gerahmt, oder?
Villa Braslavsky: Nein. In Ungarn oder Polen zum Beispiel nicht oder sehr anders.
Zimmerer: Doch auch in Ungarn SAGT die Regierung, die Maßnahmen seien zeitlich begrenzt und auch nur als Reaktion auf Coronakrise gedacht. Mir geht es darum, dass eine rein rhetorische Reaktion nicht reicht.
Villa Braslavsky: Stimme ganz zu! Rhetorisch ist es notwendig und wichtig, aber absolut nicht hinreichend. Es muss institutionelle, rechtsstaatliche Formen geben, die diese Kritik wirksam werden lassen, und eine rechtsstaatliche Grundform - Stichwort: Gewaltenteilung.
Chatzoudis: Und wie steht es um den Punkt, den der Kommentator hier auch anspricht, nämlich dass viele Dinge unter dem Radarschirm von Corona nun ohne großes Aufsehen durchgewunken werden können?
Poutrus: Das ist tatsächlich auch hierzulande ein Problem, beispielsweise in der Migrationspolitik. Allerdings kann ich nicht erkennen, dass die Nichteinhaltung der Abstandsregeln dafür ein gutes Mittel der Kritik ist.
Zimmerer: Aber was ist da bisher passiert?
Chatzoudis: Der Kommentator spielt beispielsweise hier auf Rüstungsaufträge etc. an.
Villa Braslavsky: Ich kann dazu nichts sagen. Aber grundsätzlich: Warum sollte politics as ususal derzeit auch nicht weitergehen?
Chatzoudis: Die Frage meint: Verschafft Corona der Exekutive mehr Spielräume als bisher?
Villa Braslavsky: Ja, selbstverständlich. Das ist die Pointe.
Poutrus: Das ist ganz sicher so. Deshalb ist immer die Frage: Zu welchen Zwecken und stehen die in einem sachlichen Zusammenhang zur Ausnahmesituation.
Villa Braslavsky: Die Exekutive hat jetzt zwar deutlich mehr Spielraum, aber nicht über das "vorgesehene" hinaus, nämlich über das einer solchen Ausnahmesituation.
Zimmerer: Um auf Herrn Chatzoudis zu antworten: Ich denke schon, und das gehört zu den Folgen, mit denen wir noch lange zu tun haben werden.
Villa Braslavsky: Sicher. Was auch eine Chance ist. Nämlich sich zu vergewissern, wie unfassbar wertvoll und wichtig etwa Grundrechte sind.
Chatzoudis: Ok, ich denke, damit ist die Frage beantwortet. Herr Zimmerer bitte!