Der Begriff "Antiamerikanismus" gehört zum Inventar politischer Debatten in Europa - meist als abwertender Kampfbegriff. Laut ngram-Viewer kommt er in deutschsprachigen Büchern erstmals in den 1940er Jahren auf und nimmt in der Nachkriegszeit Fahrt auf. Höhepunkt ist das Jahr 2004, das Jahr des Zweiten Irakkrieges, bei dem eine sogenannte "Koalition der Willigen" unter Führung der USA Saddam Hussein stürzte. Dieser Feldzug markiert zudem eine Phase US-amerikanischer Außenpolitik, die weltpolitisch uneingeschränkte Dominanz ausdrücken sollte. Sucht man indes nach dem Begriff Anti-Europeanism in englischsprachigen Büchern, kommt das Wort zwar früher auf - bereits Anfang des 20. Jahrhunderts -, dafür aber deutlich seltener, wenn auch ansteigend bis zum bisherigen Höhepunkt im Jahr 2007, dem Beginn der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise. Das deutschsprachige Pendant - Antieuropäismus - kommt dagegen in der Recherche gar nicht vor. Grund genug für den Historiker Dr. Philipp Scherzer, diesen Befund zu untersuchen. Seine von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Promotionsarbeit ist das Ergebnis seiner Analyse. Wir haben ihm zum Zusammenhang aus Antieuropäismus und Neokonservatismus in den USA unsere Fragen gestellt.
"Meine Hypothesen entwickelte ich auf Grundlage der Forschung zum Antiamerikanismus"
L.I.S.A.: Herr Dr. Scherzer, Sie haben sich im Rahmen Ihrer Dissertationsarbeit mit dem Europa-Bild in den USA aus historischer Perspektive beschäftigt. Die Ergebnisse Ihrer Forschungsarbeit sind inzwischen publiziert: „Neoconservative Images of Europe. Europhobia and Anti-Europeanism in the United States, 1970-2002”. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen? Was hat Sie daran vor allem interessiert?
Dr. Scherzer: Obwohl mich die Erforschung von Bildern – also im Sinne von menschlichen Wahrnehmungen, nicht von bildlichen Darstellungen wie Gemälden – bereits seit meinem Grundstudium fasziniert, sind die Ursprünge meines Interesses nicht sonderlich spektakulär. Ich stieß in der Vorbereitung auf meine Bachelor-Arbeit eher zufällig auf das größere Themenfeld, als ich mich der Erforschung von Türkeibildern in der Weimarer Republik widmete. Einmal damit auseinandergesetzt, ließ mich die Frage, welche Bilder wir uns von anderen und uns selbst machen und welche Hintergründe und Funktionen diese Bilder haben, aber nicht mehr los. Denn unabhängig vom genauen Untersuchungsgegenstand ermöglicht dieser Forschungszweig, ganz grundsätzliche Einsichten über die Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Meinungsbildung zu gewinnen. Es geht darum herauszufinden, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, warum sie sie so und nichts anders wahrnehmen und welche Rolle diese Wahrnehmung bei der Ausbildung ihrer Vorstellungen, Ansichten und Meinungen spielen. Im Grunde geht es also um die Beantwortung der Frage, wie Menschen Sinn aus einer äußerst komplexen und herausfordernden Realität machen.
Das Thema meiner Dissertation wählte ich auf Grundlage meiner Erfahrungen aus dem Bachelor- und Master-Studium dann sehr bewusst. Bei der Vorbereitung zu meiner Masterarbeit, in der ich mich Amerikabildern der SS widmete, fiel mir auf, wie wenig Beachtung amerikanische Wahrnehmungen von Europa in der Forschung fanden. Der Gegensatz ist groß: Während man mit Büchern zum europäischen Antiamerikanismus inzwischen ganze Bibliotheken füllen kann, wurde dem Phänomen des amerikanischen Antieuropäismus auffallend wenig Beachtung geschenkt.
Diese etwas vereinfachte Gegenüberstellung von Antiamerikanismus und Antieuropäismus brachte mich dann zu meinem eigentlichen Thema, weil letzterer in der Medienberichterstattung (und in einigen wenigen wissenschaftlichen Artikeln) zum US-Neokonservatismus im Kontext des Irakkriegs präsent war. Ich hatte also einen ersten Anhaltspunkt, wie ich mich einem wenig beachteten Themenfeld historisch nähern konnte.
Meine Hypothesen entwickelte ich auf Grundlage der bestehenden Forschung zum Antiamerikanismus, welche sehr eindrücklich zeigt, wie wichtig das transatlantische Gegenüber als Projektionsfläche für die Ausbildung europäischer Ideen war und ist. Interessanterweise wurde Ähnliches der amerikanischen Gesellschaft attestiert, jedoch eher beiläufig und mit Bezug auf Studien, die weit über 50 Jahre alt sind. Eine Monografie, die sich dem Thema ausgiebig widmete, fehlte sogar ganz. Eine solche liefere ich nun mit meiner Dissertation, welche explizit als Plädoyer verstanden werden soll, dem Themenfeld amerikanischer Europabilder in Zukunft verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken.