Menschliches Handeln hat mehrere Motive und wird in der Regel begründet oder sogar gerechtfertigt. Letzteres bedarf einer moralischen Grundlage, aus der ein bestimmtes Ethos abgeleitet werden kann. Religiöse Glaubensgemeinschaften können solche Grundlagen bieten und dafür der letztgültige Referenzpunkt sein, so wie beispielsweise das Christentum im Mittelalter. Maximilian Benz, Professor für Deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, geht als Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin der Frage nach, ob sich im Laufe des Spätmittelalters moralische Subjekthaftigkeit auch aus sich heraus, also individuell, entwickeln konnte, um Handeln begründbar zu machen. Wie das genau zu verstehen ist, dazu haben wir ihm unsere Fragen gestellt.
"Gläubige entwickeln die Grundsätze ihres Handelns zunehmend aus sich heraus"
L.I.S.A.: Herr Professor Benz, Sie forschen zur deutschen Literatur der Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Bielefeld und sind derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. In Ihrem Forschungsvorhaben dort konzentrieren Sie sich auf den Begriff bzw. das Konzept der moralischen Subjektivität an der Schwelle zur Neuzeit. Woher rührt Ihr Interesse an diesem Thema? Welche Überlegungen gingen dem voraus?
Prof. Benz: Verbundforschung kann auch stimulierend sein. Als ich vor vier Jahren zum ersten Mal nach Bielefeld kam, wurde ich auf den SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“ aufmerksam gemacht. Als ich mir überlegte, welche Vergleichspraktiken sich gewinnbringend untersuchen ließen, fielen mir die zahlreichen Fremd- und Selbstvergleiche in der geistlichen Literatur des späten Mittelalters auf. Rasch stellte sich heraus, dass gerade die Rekonstruktion von Vergleichspraktiken heuristisch wertvoll ist, um bislang nicht hinreichend beschriebene Anschlussprozesse in diesem wichtigen Bezirk der älteren Literatur zu rekonstruieren. Insbesondere die Veränderung der Selbstvergleiche lässt erkennen, dass Gläubige zunehmend die Grundsätze ihres Handelns aus sich heraus entwickeln, sich also als Moralsubjekte konstituieren. Ein entsprechendes Vorhaben verfolge ich nun im Rahmen der Förderung durch das Heisenberg-Programm der DFG im Zusammenhang des SFB 1288, auch hier am Wissenschaftskolleg zu Berlin.