In der Coronakrise ist das Primat des Staates sehr sichtbar. Mit Ver- und Anordnungen, Ge- und Verboten zur Bewältigung der Corona-Epidemie führt er das Zepter fest in seiner Hand. So sehr der Staat aber auch Manager der Krise und Hüter seiner Anweisungen ist, so sehr wird er mit Argusaugen verfolgt und in seinem Tun bewertet. Ist er zu autoritär, verletzt er fundamentale Rechte, sorgt er ausreichend für die Bevölkerung, sind seine Maßnahmen gerechtfertigt, ist sein Agieren transparent genug oder ist er eher undurchsichig und zu unentschlossen in seinem Tun? Wie auch immer - der Staat wird wieder kontrovers diskutiert, sein Verhältnis zu Bürgerinnen und Bürgern ist Dreh- und Angelpunkt vieler gegenwärtiger Debatten: Wie stehen polis und oikos jetzt und in Zukunft zueinander? Der Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Michael Niehaus von der Fernuniversität Hagen hat seine Gedanken zum Staat im "Blog: Corona | Krise | Unsicherheit" niedergeschrieben. Wir haben das zum Anlass genommen, ihn um ein Interview zu bitten.
"Zeiten, in denen wir unser Verhältnis zum Staat psychoanalytisch durcharbeiten"
L.I.S.A.: Herr Professor Niehaus, Sie sind Literaturwissenschaftler und Mitglied der Forschungsgruppe "Figurationen von Unsicherheit" an der Fernuniversität Hagen. Die Forschungsgruppe hat einen Blog zur Coronakrise aufgelegt. Sie haben darin zwei Beiträge zur besonderen Rolle des Staates verfasst, man könnte sogar sagen zur Rückkehr und Sichtbarkeit des Staates, den man sich in den vergangenen Jahrzehnten als so unsichtbar und unauffällig wie möglich gewünscht hat. Nun kehrt er in Zeiten von Corona in vollem Ornat zurück: Vorschriften, Verfügungen, Regeln - möglichst ohne lange (parlamentarische) Deliberationen. Feiert der Staat gerade eine Art Wiedergeburt?
Prof. Niehaus: Zunächst einmal: Es ist schon richtig, dass ich Literaturwissenschaftler bin, aber in diesem Fall fühle ich mich eher als Kulturwissenschaftler. Mir geht es also nicht um literarische Texte, die sich mit Seuchen, Pandemien, Krisen usw. beschäftigen. Man ist ja automatisch ein teilnehmender Beobachter dessen, was in dieser Corona-Krise alles so abläuft und unsere Kultur beeinflusst. Ich würde allerdings sagen, dass Literaturwissenschaftler, die eine kulturwissenschaftliche Auffassung ihres Faches haben, hier in besonderer Weise zu interessanten Beobachtungen befähigt sind. Leider spielen sie in den derzeitigen Diskussionen nicht die entsprechende Rolle. Aber nun zu Ihrer Frage. Nein, der Staat feiert nicht eine Art Wiedergeburt – das würde ich nicht sagen. Das hieße ja, dass er tot gewesen wäre. Er war sozusagen immer die Möglichkeit dessen, als was er sich jetzt zeigt. Und wir wünschen uns den Staat doch nur in bestimmten Hinsichten unsichtbar und unauffällig. Immer, wenn es Krisen gibt – und es gibt ja immer Krisen – dann wünschen wir uns den Staat als Krisenmanager; in der Flüchtlingskrise etwa oder in der Finanzkrise haben wir staatliches Handeln ja auch eingefordert. Das Besondere an der Corona-Krise ist doch vielmehr, dass jeder (nicht nur jeder und jede Deutsche, sondern jeder und jede auf ‚deutschem Boden‘) die Wirkungen staatlichen Handelns am eigenen Leib erfährt und reflektiert. Es ist dieser Zugriff, der uns frappiert und mit dem wir uns die ganze Zeit auseinandersetzen. Und wir haben viel Zeit, das zu tun.
Das ist, nebenbei bemerkt, ein ganz wesentlicher Punkt, der oft unterschlagen wird. Es lag von Anfang an nahe, für die gegenwärtige Situation die Kategorie des Ausnahmezustands (mit allen ihren Implikationen) heranzuziehen, und das ist ja auch richtig: Der Staat wird ja gerade sichtbar im Außer-Kraft-Setzen dessen, was er sonst garantiert. Nur wird dieses Außer-Kraft-Setzen für gewöhnlich auch mit so etwa wie Gefahr-im-Verzuge verbunden, also mit einer Forderung zu schnellem Handeln usw. Das stimmt aber nur auf einer Ebene. Natürlich musste der Staat sehr schnell reagieren usw., er hat in Tagen und Wochen Entscheidungen getroffen, für die er sonst Jahre braucht (zum Beispiel, wenn es um den Klimaschutz geht), und in kürzester Zeit war das öffentliche Leben lahmgelegt. Aber das Resultat ist eben nicht zuletzt dieses ‚Lahmlegen‘, eine Streckung der Zeit. Erst muss gewartet werden, ob die Maßnahmen greifen, dann muss gewartet werden, welche Wirkungen die Lockerungen haben usw. Der Feind – nämlich das Virus – lässt sich eben Zeit; es führt keinen Blitzkrieg (wie überhaupt die Metaphorik des Krieges, die verschiedentlich bemüht wurde, hier völlig verfehlt ist). Derweil haben die meisten von uns – freilich nicht alle! – viel Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, wie sie zu dieser ganzen Sache stehen, und sich ein Bild davon zu machen, wie die anderen zu dieser ganzen Sache stehen. Und das heißt für mich: Wir haben Zeit, darüber nachzudenken, welches Verhältnis wir zum Staat haben. Insofern ist es für die meisten von uns ein sehr luxuriöser Ausnahmezustand, wo schon das Fehlen von Klopapier Anlass von Diskussionen ist. Mir ist aufgefallen, wie häufig ich ‚in letzter Zeit‘ in Mails die Wendung von den „seltsamen Zeiten“ oder von den „merkwürdigen Zeiten“ gelesen habe, in denen wir derzeit leben. Es liegt auch deshalb nahe solche Wendungen zu gebrauchen, weil wir die Zeit als sehr gedehnt erfahren. Man kann vielleicht einfach sagen, es sind Zeiten, in denen die Erfahrungen, die wir machen und die wir mit uns selbst machen, untrennbar mit dem Staat verknüpft sind – Zeiten, in denen wir unser Verhältnis zum Staat gewissermaßen im psychoanalytischen Sinne durcharbeiten (oder zumindest durcharbeiten können). Das bezieht sich nicht nur darauf, dass wir unablässig darüber diskutieren, ob die getroffenen Maßnahmen angemessen sind, ob sie erfolgreich sein werden, inwiefern sie ungerecht sein müssen, ob sie gelockert werden müssen, ob das ‚schwedische Modell‘ das bessere gewesen wäre usw. Schon in diesen Erörterungen setzen wir uns ja hypothetisch an die Stelle der staatlichen Entscheidungsträger und wägen Werte ab. Aber wir tun noch viel mehr: Wir beobachten auch, was die anderen sagen, wie sie sich zu den getroffenen Maßnahmen verhalten, wie ernst sie es mit der Befolgung der Abstandsregel nehmen, ob sie eher die Risikogruppen oder eher die Wirtschaft im Blick haben usw. Wir sind sozusagen völlig vom Staat durchdrungen und schauen immer auch mit seinen Augen auf die Corona-Welt. Das gilt auch für jene, die – wie etwa Giorgio Agamben – meinen, der Staat verwandle nunmehr den Ausnahmezustand in das normale Regierungsparadigma. Dass man auf der anderen Seite immer wieder von Denunzianten gehört und gelesen hat, die Verstöße gegen die Maßnahmen melden, ist doch nur die Spitze eines Eisbergs. Der Denunziant ist aus dieser Perspektive eine ganz eigentümliche Figur. Er hat ein sehr schlechtes Image, obwohl er doch als verlängerter Arm des Staates agiert (oder wenigstens zu agieren behauptet). Dass das in einem totalitären Staat etwas Schlimmes ist, leuchtet ein, aber wir leben nicht in einem totalitären Staat. Mir kommt es so vor, als zeige sich in unserer Einschätzung des Denunzianten unser eigenes, abgründiges Verhältnis zum Staat, mit dem wir uns weder identifizieren können, von dem wir uns aber auch nicht verlässlich unterscheiden können. Wenn wir sozusagen einen Gegensatz bilden zwischen der zivilen Gemeinschaft auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite, dann ist das eben naiv. Man führt ja oft leichthin die aristotelische Bestimmung des Menschen als zoon politikon an. Aber was das eigentlich heißt, ist alles andere als klar (es heißt jedenfalls nicht nur animal sociale). Im Moment können wir viel darüber lernen.
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