Warum werden bestimmte Teile der Geschichte und Erinnerungskultur nicht beachtet oder sogar verdrängt? Diese Frage steht zu Beginn der wissenschaftlichen Studie von Dr. Susanne C. Knittel, die sich mit verdrängten Aspekten des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt. Konkret untersuchte die Literaturwissenschaftlerin hierfür die NS-Euthanasie sowie Mussolinis Politik der Rassenhygiene. Im Interview haben wir nach der Genese des Buches, Bezügen zur Theorie Sigmund Freuds sowie aktuellen Entwicklungen gefragt. Wie muss sich unser Umgang mit Geschichte und Vergangenheit ändern, um einem Vergessen entgegen zu wirken? Inwiefern ähneln sich aktuelle Entwicklungen in Italien und Deutschland?
"Menschen mit Behinderung werden oft nicht als Träger der Erinnerung gesehen"
L.I.S.A.: Dr. Knittel, Sie beschäftigten sich im Rahmen Ihrer wissenschaftlichen Studien mit der Erinnerung an verdrängte Aspekte des Zweiten Weltkriegs – beispielhaft untersuchten Sie hierfür die NS-"Euthanasie" sowie Mussolinis Politik der Rassenhygiene. Hierfür betrachteten Sie unter anderem die Gedenkstätte Grafeneck und die Gedenkstätte Risiera di San Sabba in Triest. Was interessiert Sie an diesen Themen besonders? Welche Beobachtungen gingen der Studie voraus?
Dr. Knittel: Meine Erkundung der blinden Flecken der deutschen und italienischen Erinnerungskultur begann vor über 10 Jahren, als ich Doktorandin an der Columbia University in New York war und dort Kurse im Bereich der Holocaust Studies und Cultural Memory Studies besuchte. Ich bin ganz in der Nähe der Gedenkstätte Grafeneck aufgewachsen, und die NS-„Euthanasie“ und die direkten Verbindungslinien zwischen „Euthanasie“-Programm und Holocaust waren für mich immer ein vertrautes Thema. Deshalb war ich überrascht, dass dieser Aspekt der NS-Verbrechen im öffentlichen und wissenschaftlichen Erinnerungsdiskurs über den Holocaust praktisch nicht zur Sprache kam, und zwar weder in Amerika noch in Deutschland. Also habe ich angefangen, den Gründen für diese Abkoppelung nachzuspüren. Es ist wichtig, die historischen, politischen und kulturellen Mechanismen, die zu dieser Marginalisierung beigetragen haben, zu verstehen, um die Kontinuitäten in der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen und Geisteskrankheiten zu erkennen, die auch heute noch ein angemessenes Gedenken an diese Opfer erschweren. Darüber hinaus geht es auch um die Frage, warum Menschen mit (geistiger und körperlicher) Behinderung oder mit Lernschwächen oft nicht als Träger der Erinnerung oder Teilnehmer an der Gedenkkultur und historisch-politischen Bildung gesehen werden. Das ist im Fall der Erinnerung an die NS-„Euthanasie“ besonders schockierend, da bis vor Kurzem genau die Menschen, die potentiell das größte Interesse an dieser Geschichte haben, in deren Aufarbeitung nicht mit einbezogen wurden.
Bei meiner Recherche habe ich aber noch eine andere Entdeckung gemacht. Ich habe herausgefunden, dass eine ganze Gruppe der Täter des „Euthanasie“-Programms von Grafeneck zunächst in die Vernichtungslager in Polen und dann nach Triest in Norditalien geschickt wurde, um dort ein KZ und Tötungslager, die Risiera di San Sabba, aufzubauen. Diese Besetzung mit hochgradig spezialisierten Experten der Vernichtung zeigt, wie wichtig Triest für den Verlauf der nationalsozialistischen Unterdrückung und Verfolgung war und verdeutlicht, in welcher Beziehung das „Euthanasie“-Programm zum Holocaust stand. Die Opfer der Risiera waren Slowenen, Kroaten und Juden, aber auch (vorwiegend jüdische) Patienten aus Anstalten und Krankenhäusern der Region. Eugenik und Rassenhygiene spielten schon vor der deutschen Besatzung im faschistischen Italien eine große Rolle. In Triest führte Mussolinis Säuberungspolitik unter anderem zur Zwangsitalianisierung der slowenischen und kroatischen Minderheiten – auch ein verdrängter Aspekt der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Um diese Zusammenhänge zu verstehen, muss man Grafeneck und die Risiera auch in den größeren Kontext der internationalen Eugenikbewegung einordnen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, und die eben nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien und vielen anderen Ländern großen Anklang fand.
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