Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Brexit – die EU scheint gegenwärtig aus den Krisen nicht herauszukommen, von manchem wird gar ihre Zukunft in Frage gestellt. Grund genug, sich intensiv mit ihrem Werden auseinanderzusetzen, wie es Wim van Meurs, Professor für Europäische Politische Geschichte an der Radboud-Universität Nijmegen, in einem nun ins Deutsche übersetzten Handbuch für Studierende getan hat. Was stand am Beginn der Annäherung zwischen den kriegsgeplagten europäischen Staaten? Hat der für unumkehrbar gehaltene Prozess der europäischen Integration inzwischen seine Richtung gewechselt? Und wie sind all die Probleme einzuschätzen, die Kritiker der EU bei jeder Gelegenheit vorwerfen, etwa das Demokratiedefizit und die Dominanz von wirtschaftspolitischen Interessen?
"Inwieweit war Demokratie ein Thema für die Gründungsväter der europäischen Integration?“
L.I.S.A.: Herr Professor van Meurs, lange galt in der EU das Paradigma der fortschreitenden Integration: an ever closer union. Davon kann angesichts gegenwärtiger Nationalismen keine Rede mehr sein. Sie wollen die Erosion der großen Fortschrittserzählung nutzen, um neu auf die Geschichte der EU zu blicken. Was erscheint aus heutiger Sicht anders als noch vor einigen Jahren?
Professor van Meurs: Über Jahrzehnte war die Geschichtserzählung der EU-Integration in der Tat eine Erfolgsgeschichte, lediglich von einigen wenigen, immer temporären Rückschlägen unterbrochen. Heute gibt es auch das Gegenstück dazu: Erzählungen, die die heutigen Probleme von Legitimität und Vertrauen bis zu den Ursprüngen der Europäischen Gemeinschaften zurückverfolgen. Diese Geschichte ist genauso deterministisch und meines Erachtens auch nicht überzeugend, da sich gerade die Erwartungen der Bürger an Demokratie und Partizipation – nicht nur in Europa – über die Jahrzehnte gewandelt haben. Nichtdestotrotz stellt unser Buch die Frage, inwieweit Demokratie ein Thema für die Gründungsväter der europäischen Integration war. Frühere Handbücher griffen dieses Thema meist erst ab den ersten Direktwahlen des Europäischen Parlaments 1979 auf.