Jede Gedichtanalyse lehrt, dass neben dem Inhalt eines Gedichts der Form eine entscheidende Rolle und Aussagekraft zukommt. Die Form spricht in diesem Sinne für sich und transportiert Bedeutung. Anders ausgedrückt: Ohne seine bestimmte Form ist das Gedicht nicht. Es muss eine Form wahren. Die Form zu wahren, gilt es auch im zwischenmenschlichen Umgang. In der Öffentlichkeit beispielsweise werden bestimmte Umgangsformen eingehalten, um dem unbekannten Gegenüber nicht zu nahe zu treten und ihm oder ihr Respekt zu erweisen. Das Persönliche und die intimen Gedanken werden dabei zurückgestellt. Stattdessen nimmt man eine Rolle an und spielt diese aus Gründen der Höflichkeit. Der Philosoph Prof. Dr. Robert Pfaller von der Kunstuniversität Linz hat zuletzt über die Macht der Form ein Buch geschrieben, in dem er der postmodernen Gesellschaft einen Verlust der Form zugunsten von einfachen Inhalten bzw. Botschaften attestiert und deshalb für eine Rückkehr zur Form plädiert. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Die Postmoderne arbeitet dem ökonomischen Neoliberalismus als Komplizin zu"
L.I.S.A.: Herr Professor Pfaller, Sie haben ein Buch mit dem etwas martialisch klingenden Titel "Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form" geschrieben. Darin beklagen Sie eine Formvergessenheit in unserer gegenwärtigen westlichen Kultur, nicht zuletzt auch in der Kunst. Sie kontrastieren diese Formvergessenheit mit einem Überschuss an Inhalten. Könnten Sie das bitte kurz erläutern?
Prof. Pfaller: Es gibt eine zeittypische Vernachlässigung der Form. Zum Beispiel in der Kunst, die plötzlich ihr eigenstes Geschäft, das Spiel mit dem Schein, aufgibt und stattdessen inhaltsfixiert und wahrheitsbesessen auftritt. Ebenso zeigt sich diese Tendenz im Alltagsleben, wo der Mangel an Form zu einem Verlust des öffentlichen Raumes führt. Denn zum zivilisierten Verhalten im öffentlichen Raum gehört, dass wir das Persönliche hintanhalten und eine bestimmte höfliche Rolle spielen. Das heißt "die Form wahren". Derzeit aber begegnen wir einander eben immer weniger als solche höfliche Rollen oder "Masken", und immer mehr "inhaltlich", als vermeintlich echte Personen. Zum Beispiel duzen wir einander öfter, und wir verspüren wenig Hemmung, unsere Befindlichkeiten und andere intime Details öffentlich auszubreiten. Diese Entwicklung hat Richard Sennett in seinem Buch Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität bereits Mitte der 1970er Jahre kommen gesehen. Erst heute aber sind die ethischen und politischen Nachteile schmerzhaft spürbar. Da die Höflichkeitsmasken fehlen, spürt jeder den anderen plötzlich auf der eigenen Haut.
Und viele haben sich angewöhnt, in ihrer Empfindlichkeit ihr kostbarstes Sozialkapital zu sehen. So sind alle nur mit ihren kleinen Wehwehchen beschäftigt, während zum Beispiel im Zug der noch nicht abgeschlossenen Banken- und Finanzkrise die größte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums der jüngeren Geschichte weitgehend widerstandslos stattfindet. Die Postmoderne mit ihrem Fokus auf das kulturelle Partikulare arbeitet dem ökonomischen Neoliberalismus als Komplizin zu: denn sie verhindert die Wahrnehmung größerer, übergreifender Interessen sowie die entsprechende Solidarisierung unterschiedlicher Gruppen.
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