Die Beschreibungen von Basis und Überbau ganzer Gesellschaften gehört zu den größten Herausforderungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Soziologe Prof. Dr. Andreas Reckwitz von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder hat mit seinem vielbesprochenen Buch Die Gesellschaft der Singularitäten eine Analyse von Gesellschaften westlichen Typs vorgelegt, die er in der Spätmoderne verortet. Seine Zentrale These: Waren die klassischen industriellen Gesellschaften der Moderne nach der sozialen Logik des Allgemeinen organisiert, vollzog sich in den 1970er Jahren eine Kehrtwende hin zum Prinzip des Einzigartigen bzw. der Singularitäten. Wie das genau zu verstehen ist, dazu haben wir ihm unsere Fragen gestellt.
"Die spätmoderne Realität ist mittlerweile eine ganz andere"
L.I.S.A.: Herr Professor Reckwitz, Ihr neues Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ gehört zu den jüngeren Publikationen, denen zurecht bescheinigt wird, eine wegbereitende bzw. paradigmatische Gegenwartsanalyse westlicher Gesellschaften zu liefern. Bevor wir auf Details eingehen: Was hat Sie zu dem Buch veranlasst? Welche Beobachtungen und Überlegungen gingen der Arbeit an Ihrem Buch voraus?
Prof. Reckwitz: Der entscheidende Anstoß für das Buch war für mich die Unzufriedenheit darüber, dass es der Soziologie bisher nur ungenügend gelungen ist, die eigentlichen, tiefgreifenden Transformationen, welche die Moderne in den letzten Jahrzehnten im Westen erlebt, systematisch auf den Begriff zu bringen und zu erklären. Häufig scheint die Soziologie immer noch an den Parametern der alten industriellen Moderne oder eines eindeutigen Modernisierungsprozesses zu kleben oder interpretiert die Gegenwart in diesen Begriffen dann als 'Verlust' vertrauter Strukturen. Aber die spätmoderne Realität ist mittlerweile eine ganz andere, wobei die Verschränkung der ökonomischen, der technologischen, der kulturellen, der sozialstrukturellen und der politischen Ebene in den Blick zu nehmen ist: der Zusammenhang von postindustrieller Ökonomie, Digitalisierung, neuer Klassenbildung, Problemen individueller und kollektiver Identität und politischer Polarisierung. Dass Prozesse der Singularisierung einerseits, der sozialen Polarisierung andererseits systematisch miteinander zusammenhängen, ist mir dabei im Laufe der Zeit immer klarer geworden und steht im Mittelpunkt des Buches.
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Kommentar
"Ich will den Begriff [Neoliberalismus], der ja seinen Wert hat, eigentlich retten, indem ich ihn wieder auf seine Kernbedeutung zurückführe: auf die neoliberale Politik, die Politik der Vermarktlichung, die zweifellos in den letzten Jahrzehnten prägend war."
Die Marktwirtschaft war ursprünglich nicht eine „freiheitliche“, sondern eine geregelte Ordnung (Spinoza, Hume, Smith, …), der Neoliberalismus ist ihr Verrat und Henker
Marktwirtschaft neue denken
http://marktwirtschaft-neu-denken.de/