Demokratie wird in erster Linie als ein politisches Emanzipationsprojekt begriffen. Möglichst viele Mitglieder eines politisch verfassten Verbandes sollen möglichst viel miteintscheiden dürfen und an den Ressourcen dieses Verbandes partizipieren können. So gesehen verschafft die Demokratie denjenigen einen Zugang nach oben, die zuvor von der Teilhabe ausgeschlossen waren. Das ist das Versprechen der modernen Demokratie seit den Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts. Umso mehr überrascht möglicherweise in der sozialwissenschaftlichen Forschung ein Ansatz, der das Demokratieprojekt eher als ein elitäres Abwehrprojekt begreift. Demnach seien bei führenden Demokratietheoretikern Überlegungen leitend gewesen, wie insbesondere Eigentumsverhältnisse trotz des demokratischen Anspruchs auf Partizipation und Gleichheit unangetastet bleiben können. Zugespitzt formuliert: Wie lässt sich der Pöbel trotz des demokratischen Versprechens unten halten? Welche Strategien durchdenken dazu vor allem führende liberale Intellektuelle? Die Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dirk Jörke, PD Dr. Oliver Eberl und Dr. David Salomon widmen sich in einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojekt diesen und daran anschließenden Fragen. Wir haben sie um ein Interview gebeten.
"Die Abwehr von Forderungen derer 'da unten' ist erstaunlich hartnäckig"
L.I.S.A.: Herr Professor Jörke, Herr Dr. Eberl, Herr Dr. Salomon, in einem aktuell geförderten Projekt der Gerda Henkel Stiftung forschen Sie zu sozialen Konflikten in der Ideengeschichte der Demokratie. Sie stehen gerade erst am Beginn Ihres Projektes, können uns aber sicherlich jetzt schon etwas zu Ihrem wissenschaftlichen Vorhaben, zu möglichen Hypothesen sowie zur Zielsetzung sagen. Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen - was hat Sie bewogen, dieses Thema zu wählen? Was sind Ihre Vorüberlegungen? Gibt es möglicherweise konkrete gegenwartsbezogene Beobachtungen, die bei der Themenauswahl eine Rolle spielten?
Prof. Jörke: Zunächst möchte ich sagen, dass wir uns sehr über die Aufnahme unseres Projekts „Der Blick nach unten. Soziale Konflikte in der Ideengeschichte“ in den Förderschwerpunkt „Demokratie“ gefreut haben. Neben uns dreien sind an dem Projekt noch Annika D'Avis und Jan Meyer als PromotionsstipendiatInnen beteiligt.
Nun zu Ihrer Frage: Die ideellen wie institutionellen Grundlagen der modernen, repräsentativen und gewaltenteiligen Demokratie sind größtenteils während des Zeitraums zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Nachkriegszeit geschaffen worden. Dabei wurde insbesondere auf folgende Fragen eine Antwort gegeben: Wer gehört zum demos und über welche Verfahren werden die politischen Entscheidungen an den demos rückgebunden – oder eben auch nicht. Dieses Arrangement wird derzeit von vielen politischen Akteuren in Frage gestellt. Etwa, indem die unmittelbare Beteiligung des „Volkes“ gefordert und über Zugehörigkeiten zum demos gestritten wird oder auch in Form einer Auseinandersetzung um zentrale Symbole der modernen Demokratie, in Deutschland etwa die Paulskirche oder das Hambacher Schloss.
Zugleich wird etwa von „Populisten“ immer wieder behauptet, sie würden das bei zentralen Entscheidungen oder auch symbolisch ausgeschlossene „Volk“, die bislang „schweigende Mehrheit“ vertreten, also Forderungen „von unten“ artikulieren. Eine zusätzliche Dynamik gewinnen diese Forderungen dadurch, dass sich in den Gegenwartsgesellschaften die sozialen Spannungen verschärfen, etwa mit Blick auf den Wohnungsmarkt und die damit verbundenen zunehmenden Segregationstendenzen sowie die wachsende Ausbeutung von Arbeitskräften, sei es durch die rasante Zunahme von LeiharbeiterInnen oder auch durch den weitgehend schutzlosen Status von WanderarbeiterInnen.
Diese Gegenwartsbeobachtungen, die ähnlich auch im 19. Jahrhundert gemacht werden konnten, haben uns auf den Gedanken gebracht, die Entstehungsgeschichte der modernen Demokratie und die damit verbundenen Klassenkämpfe zu untersuchen. Und zwar indem wir nicht die Geschichte der damaligen sozialen Kämpfe neu erzählen, sondern die Blickrichtung umdrehen: Wie also haben Eliten auf die damaligen politischen und sozialen Forderungen von unten reagiert und inwieweit haben diese Reaktionen auch dazu geführt, dass ein damals nur temporär und partiell befriedeter Konflikt zwischen „oben“ und „unten“ jetzt wieder, wenn sicherlich in veränderter Form, aufzutauchen scheint?
PD Dr. Eberl: Denn die Idee, soziale Konflikte in der Ideengeschichte der Demokratie aufzugreifen, hat natürlich auch mit der Annahme zu tun, von dieser etwas über die Austragung aktueller sozialer Konflikte erfahren zu können. Damit verbunden ist natürlich die Vorannahme, dass sich auch aktuelle Konflikte als soziale Konflikte verstehen lassen, die jedoch häufig hinter Beschreibungen von Konflikten über Wertvorstellungen oder Identitäten zurücktreten. Wie Eliten heute reagieren, könnte möglicherweise Muster bestätigen, die sich auch in unserem Untersuchungszeitraum finden lassen. Unser Vorhaben ist es, solche Muster als Teil der Auseinandersetzungen um Demokratie herauszuarbeiten.
Gerade die Abwertung ist heute ja besonders stark zu beobachten. Der Blick in die Historie klärt uns also darüber auf, ob unsere Situation heute wirklich so neu ist. Unser Hauptinteresse gilt dabei dem Blick der Eliten, also derjenigen Intellektuellen, die durch Theorieproduktion an der Herausbildung eines „Blicks nach unten“ auf soziale Forderungen oder ihre TrägerInnen entscheidend beteiligt waren.
Dr. Salomon: Wie aus dem Gesagten bereits deutlich geworden ist, gehören wir nicht zu denen, die meinen alles, was sich in der Gegenwart abspielt, sei ganz grundlegend neu oder aus der Geschichte herausgefallen. Unsere Hypothese ist vielmehr, dass viele Muster – etwa in der Abwehr von Forderungen derer „da unten“ – historisch ganz erstaunlich hartnäckig sind.