Essen ist mehr als satt werden. Essen ist Genuss und Lebensfreude, Kulturgut und Ausdruck individueller Lebensweisen. Schon Ludwig Feuerbach wusste: "Der Mensch ist, was er isst". Und Essen ist in den letzten Jahren zunehmend politisch geworden – oder war es das immer? Vegetarische und vegane Ernährungsweisen erscheinen uns als Phänomene eines neuen Zeitgeists der politischen Ernährung. Die Folgen des Fleischkonsums für Klima, Umwelt, Tier und Mensch werden kontrovers diskutiert. Doch die Wurzeln des Vegetarismus reichen deutlich weiter zurück. Mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung hat PD Dr. Julia Hauser die Geschichte des Vegetarismus erforscht. Im Interview erklärt die Historikerin, wie der Vegetarismus nach Deutschland kam und welche Rolle der Kolonialismus dabei spielte.
"Vegetarismus gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts"
L.I.S.A.: Vegetarische und vegane Ernährung begegnet uns heute als zeitgenössisches Phänomen, als Trend der Postmoderne, der sich mehr und mehr durchzusetzen scheint. In Ihrem Buch A Taste for Purity. An Entangled History of Vegetarianism, Ergebnis eines von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojektes, sind Sie den historischen Ursprüngen dieser vermeintlichen Modeerscheinung nachgegangen. Ist vegetarische Ernährung in Deutschland wirklich ein so neues Phänomen?
PD Dr. Hauser: Heute ist vegetarische und vor allem pflanzliche Ernährung vielleicht nicht in aller Munde, aber wird zu Recht als eine Möglichkeit, die Klimakrise zu bewältigen und food safety für die Weltbevölkerung zu sichern, diskutiert. Vegetarismus gibt es als bewusste Ernährungsform seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff, der zunächst im Englischen geprägt wurde, denn in England entstand die Bewegung früher, bereits 1846. Eine Modeerscheinung ist Vegetarismus nicht, sondern vielmehr ein ethisches Anliegen. Vegetarier und Vegetarierinnen wandten sich dagegen, dass Tiere getötet wurden, damit Menschen leben konnten. Sie wollten zeigen, dass Fleisch und Fisch für menschliches Überleben nicht notwendig, sondern sogar schädlich sind und dass sich Menschen moralisch korrumpieren, wenn sie Tiere töten. Einige verzichteten auch von Anfang an auf alle tierischen Produkte. Der Begriff Veganismus wurde jedoch erst 1942 – wieder in Großbritannien – geprägt.