Heutzutage werden digitale Werkzeuge in der Architektur – von maschinellem Lernen bis zu Fertigungstechnologien, von künstlicher Intelligenz bis zu Big Data – immer allgegenwärtiger. Zunehmend werden raffinierte Algorithmen und ausgefeilte Computerprogrammen entwickelt, die bereits in den ersten Entwurfsschritten die Formen von Bauwerken generieren können oder dabei unterstützen, formale Entscheidungen über deren Funktionsschema oder Konstruktion zu treffen. Die aktuellen Rechenleistungen beeinflussen deshalb nicht nur die kreative Arbeit von Architekt*innen, sondern gewinnen auch seit den letzten Jahren in der Architekturforschung und -Lehre deutlich an Relevanz. Im Rahmen des 36. Deutschen Kunsthistorikertags wurden die Formanalyse und Formfindung in Zeiten computergenerierter Architektur sowohl unter theoretischen als auch praxisbezogenen Aspekten betrachtet und diskutiert. Anhand unterschiedlicher Fallbeispiele wurden die Formen und ihre digitalen Besonderheiten entlang der Entwurfsprozesse untersucht, um zu erläutern, wie diese die Grundlagen der architekturhistorischen Analyse von Objekten verändern. Angelehnt an diesen digitalen Wandel der Architektur- und Designtheorie wurde darüber hinaus demonstriert, wie technologische Entwicklungen und die daraus resultierenden Architekturformen als Ausgangspunkt für erweiterte, interdisziplinäre Forschungsansätze fungieren können, etwa im Bereich der Archäologie, der Materialforschung und der Kognitionswissenschaft.
Architekturformen zwischen kybernetischer Revolution und maschinellen Automatismen
Ngoc Tram Vu | Bericht zur Sektion "Formanalyse und Formfindung in Zeiten computergenerierter Architektur" auf dem XXXVI. Kunsthistorikertag in Stuttgart
Im Eröffnungsvortrag sprach Dominik Lengyel über den Einsatz von leistungsfähigen Computerprogrammen beim architektonischen Entwerfen, welcher allerdings für die künftige Entwicklung der Architektur selbst problematisch sein könnten. Einerseits bietet die Formgenerierung von Computersystemen im Gegensatz zu herkömmlichen Handzeichnungen und organischem Tragwerk freie, multidimensionale Flächen und dadurch scheinbar unbegrenzte gestalterische Potenziale für den Entwurf. Andererseits verbirgt diese auch eine Gefahr der formalen Automatismen durch ihre vielen Möglichkeiten zur Herstellung und Anordnung geometrischer Formen, die die Entwurfsvisionen wiederum beschränken. Zwischen Funktion und Beliebigkeit, Ästhetik und Banalität entstehen serielle Entwürfe von Gebäuden, die eine augenfällige Veranlagung zur Analogie der Formen zeigen. Ole Fischer analysierte im darauffolgenden Vortrag aus Greg Lynns Text „Animate Form“ (1999) die Gemeinsamkeiten, Abweichungen und Kontinuitäten von Analog-Mapping-Architektur und parametrisch-generativer Architektur. Die digitale Spezifität der „Blob“-Architektur von Lynn, die Ansätze der klassischen Architekturtheorie, Differentialmathematik und Evolutionsbiologie vereint, ist weniger ein Ersatz oder ein Bruch als vielmehr eine konsequente Fortsetzung sowie Weiterentwicklung der Traditionslinie von Formfindung, bei der sich weitere zeitgenössische Aspekte wie digitale Materialität sowie die Interaktion zwischen Menschen, Gesellschaft und Umwelt anknüpfen. Im letzten Vortrag der Sektion leitete Mirco Becker die Überlegung, dass die Architektur- und Raumwahrnehmung im Kontext der aktuellen Entwicklungen des maschinellen Sehens als Fragment innerhalb der Sequenzen visueller Komplexität betrachtet werden sollte. Durch diverse Bildanalyseverfahren werden die strukturellen Ebenen und die visuelle Intensität der Formen verändert und gesteigert, wobei die Formfrage in komplett neuen Bezugsrahmen gestellt werden könnte: Inwiefern revolutionieren die Technologien menschliche Wahrnehmung räumlicher Komplexität? Zwischen Informationsästhetik, Virtual Reality und Z-Buffering, auf welchem Spektrum bewegen sich die Architektur und ihre Formen?
Die Sektion hat nicht nur aktuelle Tendenzen in der Forschung computergenerierter Architektur behandelt, sondern auch neue Gedanken zum architektonischen Formdiskurs im Zusammenhang mit dem Bereich digitaler Kunstgeschichte geweckt. Dabei bleiben noch weitere Fragen offen, etwa über die Verhältnisse zwischen klassischen und digitalen Methoden in der Formanalyse. Sind klassifizierte Elemente, Muster sowie vertraute Beschreibungskriterien bezüglich der Formfrage innerhalb der heutigen universitären Lehre noch relevant? Oder andersherum gefragt, wie könnten praktische Aspekte der Hightech wie Programmierung, Computermodellierung und -simulationen sowie rechnergestützte Bildgebung in das klassische, noch theoriedominierende Architektur- sowie Kunstgeschichtsstudium mit intergiert werden? Schließlich ist erwiesen, dass die Kontrolle über die Formen technisch schon längst möglich ist. Für die Forschung ist eine systematische, umfangreiche Erfassung der digitalen Formen allerdings in vielerlei Hinsicht noch unzureichend. Aus diesem Grund ist der Kontakt mit digitalen Trends und Technologien bereits in der frühen Phase des Studiums notwendig, um ein individuelles, intuitives Verständnis von (digitaler) Form, Formfindung und Formanalyse zu verschaffen und daraus das Bewusstsein sowie die Sensibilität gegenüber dieser Vielzahl an technischer Hilfsmittel zu entwickeln.
Leseempfehlungen:
Becker, Mirco; Sardenberg, Victor und Burger, Theron: Aesthetic Quantification as Search Criteria in Architectural Design, in: eCAADe SIGraDi 2019 – Architecture in the Age of the 4th Industrial Revolution, Bd. 1, 2019.
Fischer, Ole: Gefangen in der Selbstreferentialität? – Bemerkungen zur digitalen Nachahmung analoger Zeichnungsprozesse, in: Eva v. Engelberg-Dočkal, Markus Krajewski und Frederike Lausch (Hg.): Ähnlichkeit: Prozesse und Formen. Mimetische Praktiken in der neueren Architektur, Heidelberg 2017, S. 40–50.
Lengyel, Dominik und Toulouse, Catherine: Die digitale Visualisierung von Architektur, in: Blickpunkt Archäologie 2/2016, S. 91–98.
Lynn, Greg und Kelly, Therese: Animate Form, New York 1999.