Zimmerer: Ok, ich mache nochmals einen Versuch. Wir haben jetzt gezeigt, was die anderen alle nicht können. Nun zum Schwur: Sie haben 15 Minuten mit Frau Merkel. Was sagen Sie ihr ganz konkret?
Nolte: Erstmal Respekt vor dem, wie sie und die Politik in Deutschland damit umgehen. Dann würde ich sie fragen, wen sie so täglich anruft, ob auch Soziologinnen, Kulturwissenschaftler, Historiker dabei sind? Sie hielt doch früher mal viel von Osterhammel!
Zimmerer: Das dauert eine Minute. So wichtig ist ihr das Lob, das Respekt-Zollen gar nicht, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Sie fragt eher nach Lösungen.
Boatcă: Ich frage, warum nur zwei Frauen bei der Leopoldina-Kommission dabei waren und die Kommission auch sonst wenig divers war. Ich schlage vor, sich die EU-weiten Auswirkungen der Krise anzusehen und nicht nur auf Deutschlands bisherige Erfolge zu blicken - also, was hat Austeritätspolitik mit dem Gesundheitssystem Spaniens und Italiens zu tun, warum können rumänische und bulgarische Spargelerntehelfer*innen in dieser Krise ihr Gehalt nicht verhandeln, warum werden nur 47 Kinder aus den Geflüchtetenlagern geholt, wenn doch Deutschland so gut dasteht?
Chatzoudis: Merkel hat in meinen Augen eine Stärke in der Coronakrise: Sie wirkt unaufgeregt, keine lauten Ansagen, fast antiautoritär. Aber ich erkenne nicht, dass sie als Naturwissenschaftlerin derzeit auf etwas anderes vertraut als eben die "harten Wissenschaften".
Zimmerer: Man darf doch noch träumen...
Chatzoudis: Muss man sogar!
Nolte: Trotzdem, ich versuche ihr nahezubringen, dass medizinische und gesellschaftliche Fragen abzuwägen sind. Aber das kann Schäuble besser, und auf den hört sie auch nicht. „Wir“ müssen gar nicht unbedingt die Politik besser machen. Eine Aufgabe bleibt ja das „Wadenbeißen“, das Querschießen, das „mal ne Frage stellen“.
Zimmerer: Das habe ich ihr auch gesagt, in anderem Kontext, das mag sie eher nicht als Argument.
Boatcă: Ich finde das auch konstruktiv, doch oft wird uns vorgeworfen, dass wir nur das können.
Nolte: Die Historiker*innen sind vielleicht auch deshalb im Moment zögerlich, weil das mit ihrer letzten Resolution, auf dem Historikertag in Münster, irgendwie schiefgelaufen ist, wie immer man inhaltlich dazu steht.
Chatzoudis: Wie meinen Sie das? Historiker sollten sich aus der öffentlichen politischen Debatte heraushalten?
Nolte: Nein, eben nicht - aber jetzt haben sie einen Schreck bekommen. Huch, beim nächsten Mal halten wir uns lieber zurück...
Zimmerer: Sehr konkret wurden wir jetzt aber auch nicht. Ich denke die Kritiker*innen widerlegen wir nicht mit allgemeinen Lehrsätzen.
Boatcă: Finden Sie? Geschlechterungleichheiten anzusprechen ist ein allgemeiner Lehrsatz, ja. Häusliche Gewalt und Überlastung von Frauen und feminisierten Anderen mit Care-Aufgaben ist es nicht.
Nolte: Nein, nicht mit Lehrsätzen, aber mit konkreten Interventionen, einem Zeitungsartikel, einem Interview. Es geht auch nicht um Widerlegen, eher um Widerlager. Also letztlich, auf den Punkt komme ich immer wieder zurück, um ein Aufbrechen eines allzu homogenen Diskurses.
Zimmerer: Stimme ich zu, aber wir können noch mehr. Historisch einordnen, zeigen, wohin rein technokratisches Wissen führen kann, Risikofolgenabschätzung aus der Vergangenheit gewinnen. provinzielle Enge aufbrechen etc.
Nolte: Absolut. Allein der Technokratie-Expertokratie-Komplex!
Boatcă: Und strukturelle Ungleichheiten in der Gegenwart aufzeigen, die zwar in der Vergangenheit ähnlich waren, aber nicht daraus abgeleitet werden können. Wir brauchen mindestens beides - die historische und die globale Perspektive. Die Gegenwart erscheint uns damit (auch) als weniger bedrohlich.
Chatzoudis: Müssen wir uns dann aber auch vielleicht darüber unterhalten, wer die Gatekeeper in der öffentlichen Debatte sind? Wer verschafft oder verwehrt geistes- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven den Zutritt in die Öffentlichkeit?
Nolte: Da spielen die Journalisten eine große Rolle. Aber es gibt solche und solche - auch welche, die an der „Gegenrede“ interessiert sind.
Chatzoudis: Aber nicht auf Seite 3...
Nolte: Gibt es in Ihrem Fach eigentlich Aktionen, Appelle, Offene Briefe, Frau Boatcă?
Boatcă: Aus dem Fach als Ganzes vielleicht nicht, aber viele Einzelinitiativen. Der Offene Brief für das "Nicht-Semester" beispielsweise kam ja aus der Soziologie. Und zu den Geflüchteten gibt es Initiativen. Zu den Erntehelfer*innen schreibe ich gerade.
Zimmerer: Was sagen Sie, warum Frau Merkel Sie zum Mitglied der CoronaTask Force machen sollte?
Boatcă: Weil wir viel darüber wissen, wie häusliche Gewalt funktioniert, und dass sie in Quarantäne-Zeiten verheerende Auswirkungen hat, aber nichts Neues ist; weil wir sagen können, wie kulturelle Stereotype entstanden sind, auf die in Krisenzeiten zurückgegriffen wird, um alltägliche und systematische Rassismen wiederaufleben zu lassen - sei es, um die Pandemie einer Ethnie anzuhängen oder ganze ethnische oder soziale Gruppen als "verseucht" anzusehen.
Zimmerer: Wir müssen zum Ende kommen. Jede(r) noch eine Empfehlung?
Boatcă: Sie haben selbst in einem Artikel von der "kolonialen Amnesie" im Zusammenhang mit der Verbreitung von Viren durch Europäer in den Amerikas gesprochen. Ich würde sagen, wir arbeiten gegen Amnesien aller Art, koloniale wie schichtenspezifische, und sollten es weiterhin tun.
Nolte: Hartnäckig bleiben, quer denken, Waden beißen.
Chatzoudis: Mehr provozieren. Mehr Mut in den Schlussfolgerungen aus der Analyse. Denken ohne Geländer.
Zimmerer: Ich habe es Frau Merkel so beschrieben: Der/die Professor*in ist der/die moderne Hofnarr/närrin, der/die einzige, der/die der Macht noch die Wahrheit in Gesicht sagen darf bzw. kann (auch wenn dies leider viel zu selten geschieht).
Nolte: Hofnarr gefällt mir! Aber Hofnarr mit Wissen, ob über Ungleichheiten oder Expertokratie.
Zimmerer: Hofnarren waren oft keine Narren. Ok, wir sind am Ende, zeitlich meine ich. Vielen Dank!
Nolte: Vielen Dank auch!
Chatzoudis: Ja, vielen Dank!
Boatcă: Danke auch von mir!