Die Zahlen zu Infektionen und Todesfällen infolge des Coronavirus geben momentan folgende Lesart vor: Deutschland hat zwar europaweit mit die meisten registrierten Infizierten, aber im Verhältnis dazu relativ wenige Tote zu verzeichnen. Die alle zwanzig Minuten aktualisierte Corona-Statistik der Wikipedia listet (Stand: 8. April 2020, 9:30 Uhr) folgende Zahlen: Italien 135.586 bestätigte Infektionen bei 17.127 Todesfällen, Spanien 141.942 zu 14.045, Frankreich 78.167 zu 10.328 , Vereinigtes Königreich 55.242 zu 6.159, USA 401.608 zu 12.902 und Deutschland 107.659 bestätigte Infektionen bei 2.017 Todesfällen. In Deutschland gibt es also gemessen an der Zahl der Infektionen die mit Abstand wenigsten Todesfälle. Wie erklärt sich das? Macht Deutschland etwas signifikant anders als andere Länder? Welche Rolle spielen dabei Tests, Gesundheitssysteme und Mentalitäten? Sind die kursierenden Zahlen überhaupt verlässliche Indikatoren für Ausmaß und Eindämmung des Coronavirus? Darüber haben sich Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen LogBuch mit ihren neuen Gesprächsgästen ausgetauscht: mit der Soziologin Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky von der LMU München sowie mit dem Historiker Dr. Patrice G. Poutrus von der Universität Erfurt.
"Die Aussagekraft der Zahlen ist eher begrenzt"
Chatzoudis: Ich begrüße heute, auch im Namen von Herrn Zimmerer, zwei neue Gäste in unserem LogBuch: die Soziologin Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky von der LMU München und den Historiker Dr. Patrice Poutrus von der Universität Erfurt. Herzlich willkommen!
Villa Braslavsky: Danke für die Einladung zu diesem Gespräch, ich finde das spannend und bin gespannt, wie es wird.
Chatzoudis: Nach nun einigen Wochen Erfahrung mit der Ausbreitung des Coronavirus fällt auf, dass selbst in Europa die Auswirkungen der Pandemie sehr unterschiedlich sind – insbesondere mit Blick auf das Verhältnis aus Infektionszahl und die Anzahl der durch Corona bedingten Todesfälle. Italien, Spanien und selbst Frankreich haben deutlich mehr Tote zu verzeichnen als Deutschland, und das, obwohl die Zahl der Infizierten in Deutschland deutlich größer ist. Woran liegt das? Ist Deutschland im Umgang mit der Pandemie ein Vorbild für die Welt? Was macht man in Deutschland besser? Macht Deutschland überhaupt etwas besser?
Zimmerer: Wir hatten das unter uns auch schon diskutiert. Für abschließende Bewertungen ist es meines Erachtens noch viel zu früh.
Villa Braslavsky: Was die Zahlen angeht, würde ich noch einen Schritt zurücktreten. Ich beobachte erst einmal, dass es einerseits bemerkenswert ist, wie stark wir Zahlen in dieser Krise als Evidenz und damit als Geländer bzw. Leitplanken für die Praxis und die Politik nehmen. Das ist zwar angesichts der Evidenzbehauptung von Zahlen in der Moderne nicht so erstaunlich, aber es ist schon bemerkenswert im Kontext der eigentlich weit verbreiteten Unsicherheit in Bezug auf Zahlen, Wahrscheinlichkeiten, Kausalitäten usw. in der allgemeinen Bevölkerung wie auch in der Wissenschaft.
Zimmerer: Ein spannender Punkt. Glauben wir an Zahlen, weil sie vermeintlich objektiv sind? Das passt auch zur "Herrschaft der Expert*innen", die manche so lieben.
Chatzoudis: Ok, aber die Zahlen sind ja erst einmal da, und sie drücken eine Realität aus, die für viele Betroffene tödlich endete.
Villa Braslavsky: Nein, die Zahlen sind nicht einfach da. Und das wäre mein Andererseits: Denn derzeit wird auch sehr nachdrücklich und tragisch klar, wie komplex Zahlen sind, wie prekär und voraussetzungsreich Modelle. Das bestimmt den, gerade auch deutschen, Diskurs sehr. Also, die Einsicht darin, dass "man das alles nicht so genau sagen kann", wie viele Tote, wie hoch die Infektionsraten, die Dunkelziffern usw.
Chatzoudis: Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Villa Braslavsky: Wir gehen zurzeit mit Begrifflichkeiten wie "exponentiellem Wachstum" oder "Verdoppelungsraten" um, was einerseits total sinnvoll ist, aber andererseits gehen wir als Öffentlichkeit auch mit der Unsicherheit hinter solchen Kennzahlen um.
Poutrus: Ich finde, dass die Aussagekraft der Zahlen auch eher begrenzt ist und schon deshalb bleibt eine Bewertung eher schwierig. Auch finde ich die regionalen Unterschiede bemerkenswert.
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vielen Dank für Ihren Kommentar, den ich an Frau Villa Braslavsky und die Runde insgesamt weitergeleitet habe.
Mit freundlichen Grüßen
Georgios Chatzoudis
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vielen Dank für die sehr treffende Aussage, bezogen auf die 68'er:
"Nein, im Gegenteil, nicht gescheitert, sondern vielmehr verstanden als Wissen um die politische Dimension und Relevanz der eigenen Lebensführung und mit der Kehrseite einer (bisweilen denunziatorischen, fundamentalistischen) Moralisierung der Alltagspraxis."
Fragen:
Ließe sich diese Ambivalenz nicht auch ohne 68'er erklären als ganz normale zur Verfügung stehende Verhaltensweisen in einer Gesellschaft - Zustimmung durch Befolgen und Befeuerung durch Denzunziation?
Die dritte mögliche Verhaltensweise, nämlich die Ablehnung gegenüber den staatlichen Maßnahmen, des "patriarchalischen" Tones der Politik (Die Bürger verhalten sich größtenteils brav) oder der vorgelegten Zahlen und Schlussfolgerungen, kommt in dieser Diskussion leider zu kurz und wäre sicher einer eigenen Betrachtung wert. Ist das nicht ein notwendiges Korrektiv gegen allzuviel 'Durchgreifträume' der Politik, die unter der Coronaebene etliche Dinge wie Waffenexporte, Defender 2020 etc. durchwinken kann?
Ich danke für den ausgewogenen, differenzierten Stil von Ihrer Seite und von Seite der anderen Diskutanten - das findet sich leider sehr selten in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion.
Mit freundlichen Grüßen