Das Corona-Virus sei der große Gleichmacher, heißt es in vielen Debattenbeiträge. Denn immerhin seien wir als Menschen alle ganz unabhängig von sozialem Status, Hauptfarbe oder Geschlecht der Gefahr ausgesetzt. Es kann also jeden und jede treffen. Aber stimmt das überhaupt? Sind wir alle demselben Risiko ausgesetzt? Oder gibt es doch eine Reihe von Variablen, die uns anfälliger oder weniger anfällig für eine Infektion machen und uns mehr oder weniger Chancen auf Heilung einräumen? Wie steht es dabei vor allem um den sozialen Status? Gibt es möglicherweise eine Klassenspezifik im Zusammenhang mit der Coronakrise? Diese Fragen haben Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen LogBuch ihren Chat-Gästen Paula-Irene Villa Braslavsky und Patrice G. Poutrus gestellt und diese untereinander sehr kontrovers diskutiert.
"Im Umgang mit dem Virus realisiert sich massiv bestehende soziale Ungleichheit"
Zimmerer: Sind Viren die großen Gleichmacher? Oder gibt es doch soziale Unterschiede, zumindest langfristig? Hat das Ganze auch eine Klassenkomponente, und wie sollten wir die Effekte kurz- wie langfristig auffangen?
Villa Braslavsky: Beides. Viren halten sich tatsächlich nicht an Landes- oder Milieugrenzen, Menschen haben im Wesentlichen dieselben Körper und sind im Prinzip gleichermaßen verwundbar, biologisch bzw. somatisch. Aber! Zugleich sind etwa das Immunsystem, die Symptomatik, die Gesundheit, das Biologische und Somatische sehr, ja, wesentlich von sozialen Bedingungen und Praxen geprägt. Im Umgang mit und in den Effekten des Virus realisiert sich also massiv bestehende soziale Ungleichheit.
Poutrus: Hm, ja, mein Eindruck ist aber, dass die Befürchtung bei manchen SprecherInnen momentan ist, dass ihre privilegierte Position im Zuge der Pandemie verloren gehen könnte. So erklärt sich für mich auch manche und sehr schnelle „Wutrede“ gegen die Kontaktverbote.
Zimmerer: Ist das wirklich vor allem die Furcht der Privilegierten? Ich nehme auch wahr, dass diejenigen, die jetzt schon weniger privilegiert sind, fürchten, zu den besonderen Verlierern und Verliererinnen der Coronakrise zu gehören.
Poutrus: In der Tat. Selbst beim Risiko der Infektion und noch mehr in der Behandlung der Erkrankung offenbaren sich bereits jetzt Ungleichheitsfolgen, die mich an der egalisierenden Wirkung des Virus zweifeln lassen.
Villa Braslavsky: Für ca. vierzig Prozent der Menschen weltweit ist zum Beispiel schon Händewaschen ein Luxus.
Zimmerer: Wichtiger Punkt, aber bleiben wir vielleciht zunächst in Deutschland?
Villa Braslavsky: Wohnsituation, Homeschooling, der affektive Umgang mit der Krise, Gesundheitsversorgung und vieles mehr. Das alles ist Ausdruck von und wirkt zurück auf soziale Ungleichheit. Hier und jetzt!
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Mit freundlichen Grüßen
Georgios Chatzoudis
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"Europäische Strukturen schaffen für eine gemeinsame Politik in Sachen Steuer, Finanzen und Soziales/Gesundheit."
Das hat nun mit dem Coronavirus nichts zu tun. Eine 'gemeinsame' europäische Politik wird genau dasselbe machen wie die nationalen Politiken, nur in größerem Rahmen. Es ist jetzt schon absehbar, dass eine europäische Außenpolitik genau so machtversessen und gewaltbereit und ungerecht sein wird, wie die derzeitige Politik der USA etwa.
Was man aus der Coronakrise lernen kann, scheint mir Folgendes zu sein:
1. Viele, wenn nicht alle Krisen sind global
(Corona, Klima, gewaltsame Konflikte)
2. Der Kapitalismus ist nicht nur ein Problem, sondern auch die Lösung
(Welches System könnte denn bitte Millionen von Atemschutzmasken zeitnah herstellen?)
3. Die Politik ist nicht an 'Gerechtigkeit' interessiert, sondern an 'Macht'
(Aktuelles Beispiel: "Die Pandemie als Druckmittel", german-foreign-policy)
4. Das Nationale geht über das Internationale/Globale
(Deswegen war De Gaulles "Europa der Vaterländer" der richtigere Weg für ein Europa; Deutschland selbst fährt ja auch ein föderales System)
Soweit ein kleiner Aspekt der Debatte.
An dieser Stelle möchte ich den beteiligten Diskutanten ein Dankeschön für die hohe Qualität der Argumentation danken. Ein besonderes Dankeschön gilt dem Initiator des Coronalogbuches.