Der menschliche Körper als vulnerable Materialität steht gegenwärtig im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses. Um seine Beschaffenheit, seinen Schutz, seine Gesundheit, sein Überleben, seine Unversehrtheit drehen sich aktuell viele Fragen - nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern auch aus historischer, sozialwissenschaftlicher oder auch aus philosophischer Perspektive. In den Geistes- und Sozialwissenschaften sind die Fragen und Überlegungen über den menschlichen Körper und seine Relevanz für Gesellschaften allerdings alles andere als neu - sie reichen weit zurück bis zu den Anfängen ihrer jeweiligen Disziplinen. In deren Folge kam es unter anderem zu einer Aufspaltung des menschlichen Körpers in die Sphäre des Materiellen einerseits und des Geistigen andererseits, die ihren Ausdruck auch in der Unterscheidung zwischen Körper und Leib fand. Der Soziologe Prof. Dr. Jörg Michael Kastl von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg kritisiert in seinem aktuellen Buch "Die Generalität des Körpers" diese Zweiteilung als ein romantisches Körperkonzept und schließt dabei an das Werk des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) an, dem es nicht zuletzt um die Überwindung dieser Aufspaltung ging. Wie das genau zu verstehen ist und was in diesem Zusammenhang die Generalität des Körpers meint, dazu haben wir Professor Kastl unsere Fragen gestellt.
"Merleau-Ponty geriert sich nicht als Paradigmenwechsler und Star-Denker"
L.I.S.A.: Herr Professor Kastl, Sie haben ein neues Buch vorgelegt, in dem Sie sich mit dem Philosophen Maurice Merleau-Ponty auseinandersetzen. Das Buch hat den Titel "Generalität des Körpers". Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen, was interessiert einen Soziologen an einem Philosophen wie Merleau-Ponty, dessen Denken in der Soziologie bisher kaum eine Rolle gespielt hat? Welche Vorüberlegungen haben Sie geleitet?
Prof. Kastl: Dass Merleau-Ponty soziologisch bisher kaum eine Rolle gespielt hat, ist insofern schon mal zutreffend, als man ihn in der Ahnengalerie soziologischer Klassiker vergeblich suchen wird. Immerhin gibt es so eine Art soziologisches Anrufungsritual, wenn es um „Körper“ oder „Leib“ geht. Merleau-Pontys Name wird genannt und es werden einige Formeln aus seiner Frühschrift „Phänomenologie der Wahrnehmung“ rezitiert. Dass aber seine Themenpalette kultur-, sprach-, kommunikations- und gesellschaftstheoretische Aspekte umfasst, dass er eine gerade für die Kritische Theorie interessante Revision dialektischen Denkens vorgelegt hat - das bleibt in der Tat undiskutiert.
Allerdings gibt es auch einen latenten Einfluss Merleau-Pontys auf die Soziologie, der sich unbemerkt, gleichsam auf Katzenpfoten vollzogen hat. Viele Denkfiguren, die man heute dem „Poststrukturalismus“, „Performative Turn“, „Practice Turn“, Autoren wie Castoriadis, Bourdieu, Derrida, Deleuze, Foucault, Butler oder Schatzki zurechnet, gehen auf Merleau-Ponty zurück. Sie wurden irgendwie aus dem Kontext seiner Texte gelöst, als Versatzstücke verbreitet und wieder „aufgeschnappt“, ohne dass sie heute mit seinem Namen verbunden werden. Wie ist das möglich? Ich glaube, es liegt vieles an der Art und Weise, wie Merleau-Ponty schreibt. Er geriert sich nicht als Paradigmenwechsler und Star-Denker, wie man das in den Geisteswissenschaften so liebt. Merleau-Ponty hat ein wichtiges Konzept Husserls, die „fungierende Intentionalität“, auf französisch mit „intentionalité opérante“ wiedergegeben. Das charakterisiert ganz gut seinen eigenen Denk- und Schreibstil. Man könnte das als „Arbeitsintentionalität“ rückübersetzen (so wie Psychologen von „Arbeitsgedächtnis“ sprechen), ein „Bewusstsein in Arbeit“, ein forschendes, nach vorne offenes Entwickeln von Konzepten an Gegenständen entlang, das keine Eindeutigkeiten und falsche Ergebnisse suggeriert und ohne disziplinäre Barrikaden und Frontstellungen auskommt.
Schon Sartre hatte Merleau-Ponty vorgeworfen, er spiele eine Art philosophisches Hütchenspiel, bei dem die Wahrheit in einer Pluralität von Perspektiven verschwimme. Ich glaube nicht, dass das so ist. Aber solche Autoren werden auf gewisse Weise ausgebeutet. Andere profitieren von ihrer Arbeit, machen damit große Thesen, glauben sich aber erlauben zu können, nicht zitieren zu müssen. Ein gutes Beispiel ist Bourdieu, der als Student Merleau-Pontys Vorlesungen besucht hat, seine Texte selektiv gelesen hat. Seine Identifikation mit Merleau-Ponty ging so weit, dass er dessen Lieblingszitate seinerseits zitiert, ohne es zu merken. Bourdieu zelebriert geradezu Argumentationsfiguren, die von Merleau-Ponty erarbeitet wurden, aber hält das kaum der Erwähnung für wert. Die Kulturwissenschaftlerin Sofia Prinz hat in diesem Zusammenhang zu Recht von einem „unterschlagenen Erbe“ gesprochen.
Was mich betrifft, so hatte ich mich im Umfeld meiner in den Neunzigerjahren entstandenen Habilitationsschrift schon einmal mit Merleau-Ponty auseinandergesetzt und damit einige Ungereimtheiten der Theorie sozialer Systeme Luhmanns aufdecken können. Im Vordergrund stand damals aber weniger die Kategorie des Körpers, sondern die Zeit- und Gedächtnistheorie.
Seit 2001 wurden immer mehr Skripte seiner Vorlesungen am Collège de France veröffentlicht. Insbesondere durch die 2012 editierte Vorlesung „Le monde sensible et le monde de l’expression“ ist mir deutlich geworden, wie sehr sein Denken Anfang der 1950er Jahre eine bedeutungs-, sprach- und kommunikationstheoretische Richtung eingeschlagen hatte - lange vor den entsprechenden geräuschvollen „Turns“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Dabei spielt im Anschluss an Saussure ein differenztheoretisch geprägter Strukturbegriff eine große Rolle, zugleich vermied Merleau-Ponty aber von Anfang an strukturalistische Übertreibungen. Walter M. Sprondel und Richard Grathoff hatten dazu bereits in den 1970er Jahren eine Tagung in Konstanz initiiert und einen Band veröffentlicht mit dem Titel „Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften“. Ich habe ihn im Untertitel meines Buches wieder aufgegriffen, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass es hier bis heute eine Rezeptionslücke gibt und es sich lohnt an diese Fragen wieder anzuknüpfen. In meinem Buch beziehe ich die Themen Gedächtnis, Struktur, Sprache auf das, was von Merleau-Ponty bis heute in der Soziologie angekommen ist. Und das ist eben hauptsächlich ein arg verkürztes Körper- oder „Leib“-Konzept.