In der Moderne war es recht einfach: Wissenschaft schafft Gewissheit. Es galt das Prinzip, dass eine wissenschaftliche Aussage, Methode, These, Hypothese oder Theorie solange Gültigkeit besaß, bis durch wissenschaftliche Verfahren ihre Ungültigkeit nachgewiesen werden konnte. Was aber, wenn Wissenschaft selbst nur noch als eine Variante einer Erzählung wahrgenommen und verstanden wird? Was, wenn viele dieser Erzählungen untereinander kursieren, und nicht nur miteinander konkurrieren, sondern sich gegenseitg fundamental ausschließen, und dass, obwohl das zugrundeliegende empirische Material dasselbe ist? Und wie ist es einzuschätzen, wenn Wissenschaft politisches Handeln erzeugen und begründen soll? Welche "wissenschaftliche Erzählung" wählt man dann aus? Oder gibt es doch ein Verständnis von Wissenschaft, das mehr ist als nur ein besonderes Narrativ? Wir haben diese Fragen dem Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder von der Universität Mainz gestellt, der bereits in seinem Buch "21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart" darauf Antworten vorgeschlagen hat.
"Diskrepanz zwischen vorhandenem Wissen und öffentlichen Aufmerksamkeitsökonomien"
L.I.S.A.: Herr Professor Rödder, Sie haben 2015 ein vielbeachtetes Buch geschrieben: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Anspruch des Buches ist es unter anderem, Grundprobleme unserer Zeit sowie Entwicklungen, die sich für die Zukunft abzeichnen, aufzuzeigen. Liest man Ihr Buch heute, vermisst man ein Grundproblem des noch jungen 21. Jahrhunderts: Seuchen globalen Ausmaßes, so wie die gegenwärtige Corona-Pandemie. Hat uns alle diese Seuche überrascht? War damit angesichts von Rinderwahn, Vogelgrippe und Schweinepest, Ebola und SARS nicht zu rechnen? Sind Infektionen als globales Problem bislang in vielen Analysen unterschätzt worden?
Prof. Rödder: Das stimmt nicht ganz – immerhin habe ich Pandemien als globale Herausforderungen zwei mal erwähnt. Mir ist das Thema seinerzeit durch das Buch von Ian Goldin Divided nations. Why global governance is failing, and what we can do about it bewusst geworden – aber in der vollen Bedeutung habe auch ich es, und insofern haben Sie mit Ihrer Frage wiederum völlig recht, nicht erfasst. Das Thema war in der Welt, als zentrale Bedrohung wurde es überwiegend aber nicht realisiert – ein weiteres historisches Beispiel für die Diskrepanz zwischen vorhandenem Wissen und öffentlichen Aufmerksamkeitsökonomien. Noch im Februar 2020 war öffentlich fast nur noch vom Klimawandel die Rede, wenn es um globale Bedrohungen ging.