Wer Simone de Beauvoirs philosophisches Werk "Das andere Geschlecht" von 1949 liest, findet darin den Satz: "Im allgemeinen gesehen ist die Ehe heute ein Rest überlebter Sitten." Mit Blick auf die jüngere Vergangenheit sowie auf die Gegenwart liegt sie damit richtig und falsch zugleich. Die Ehe ist schon lange nicht mehr die einzige gesellschaftlich akzeptierte und praktizierte Form des Zusammenlebens zweier Menschen. Einerseits. Andererseits aber ist sie auch noch lange nicht verschwunden. Im Gegenteil. So fordern insbesondere gleichgeschlechtliche Paare, denen die Ehe bislang verwehrt geblieben ist, ein Recht auf Ehe. Entsprechend sagt der Gesetzgeber in Deutschland seit 2017: Ehe für alle. Dieser Befund wirft Fragen auf: Woran liegt es, dass die Attraktivität der Ehe gleichzeitig ab- und zunimmt? Was war die Ehe früher, was ist sie heute? Wie hat sie sich im Laufe der Geschichte gewandelt? Die Soziologin Prof. Dr. Rosemarie Nave-Herz gehört zu den renommiertesten Familiensoziologen Deutschlands und hat in ihrer neuesten Publikation die Ehe in Deutschland analysiert. Wir haben ihr dazu unsere Fragen gestellt.
"Der enge Zusammenhang von Ehe und Familie ist für die Gegenwart nicht gerechtfertigt"
L.I.S.A.: Frau Professor Nave-Herz, Sie haben als Soziologin jüngst ein Buch mit dem Titel "Die Ehe in Deutschland" veröffentlicht. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handele sich dabei um ein Thema, das schon mehrmals einer soziologischen Analyse unterzogen worden sei. Was hat Sie bewogen, zum Thema Ehe in Deutschland zu publizieren? Welche Überlegungen gingen Ihrer vorliegenden Studie voraus?
Prof. Nave-Herz: In der Soziologie wurden zwar viele empirische Untersuchungen über bestimmte einzelne Aspekte der Ehe durchgeführt, z. B. über die Frage der Reduktion der Kinderzahl in der Ehe, über die Ursachen der Ehescheidung, über die Arbeitsteilung zwischen den Ehepartnern usw. Aber eine Zusammenfassung der vorhandenen einzelnen Forschungsergebnisse zum Zwecke einer stärkeren ganzheitlichen Betrachtung der Ehe fehlte bislang; das habe ich mit meinem Buch zu verändern versucht. Ferner wurde - und wird noch immer - die Ehe vornehmlich nur im Hinblick auf Kinder thematisiert, nicht als eigenständige Lebensform. Der enge Zusammenhang von Ehe und Familie ist für die Vergangenheit gerechtfertigt, aber nicht für die Gegenwart. Die Ehe als eigenständige Lebensform mit eigener Sinnzuschreibung sekundäranalytisch zu untersuchen, war mein wissenschaftliches Ziel.
Auch die zahlreichen soziologischen empirischen und theoretischen Untersuchungen über den familialen Wandel beziehen sich nicht auf die Ehe, obwohl dieser gravierend war, und zwar nicht nur hinsichtlich der Art und Form der ehelichen Beziehungen, sondern auch bezüglich ihrer Länge. Noch nie in der Geschichte haben so viele Ehepaare ihre goldene, ihre eiserne oder sogar ihre Gnaden-Hochzeit gefeiert wie heute - trotz aller Ehescheidungen! Vom Einzelnen her betrachtet, nimmt die Familienzeit, das Zusammenleben mit Kindern, nur noch ca. ein Viertel seines Lebens ein, während die nachelterliche Phase, die Zeit nach Auszug der Kinder aus dem Elternhaus, die längste Phase im Lebenslauf für die überwiegende Mehrheit der Menschen in Europa und anderen Industriestaaten geworden ist. Sie umfasst in Deutschland durch die Verlängerung der Lebenserwartung heutzutage ca. 2/4 der gesamten Lebenszeit. Welche Auswirkungen haben diese gesellschaftlichen Veränderungen auf die Ehe? Diese Frage interessierte mich ebenfalls.