Forschungen über die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhundert haben in den letzten 25 Jahren Konjunktur. Die Literatur über ihre Voraussetzungen, Hintergründe und Ausgestaltungen ist äußerst komplex und kaum mehr zu überblicken. Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München und Professor für Neuere Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, beschäftigt sich in seinem Vortrag mit den Rollen, die dem Ersten Weltkrieg in der wissenschaftlichen Literatur für die Entwicklung der Gewaltgeschichte zugeschrieben werden. Exemplarisch an drei jüngeren Veröffentlichungen typisiert er in einem ersten Schritt unterschiedliche Deutungsmuster anhand von drei vorherrschenden Interpretationsmodellen:
1.) Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts als ein der Moderne eingeschriebener Modus
2.) Gewalt als Resultat einer deutschen Sonderentwicklung
3.) Gewaltgeschichte als räumlich konzentriertes Geschehen.
Darauf aufbauend entwickelt er ein ergänzendes Interpretationsmodell, das Gewalt als Resultat europäischer Ungleichheiten und der Inkongruenz von Nation, Staat und Demokratie versteht.
Ringvorlesung »1914/15 - Weltkrieg, Massentod, Völkermord - "Gewaltdynamiken" im Blick der Forschung«
Im Rahmen der Ringvorlesung werden ausgewiesene Experten systematisch Einzelaspekte der Gewaltgeschichte des Ersten Weltkrieges diskutieren. Dabei werden die einzelnen Vorträge insbesondere die neue Qualität von Gewaltpraktiken und Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg in den Blick nehmen sowie die Veränderung von Räumen und Regionen thematisieren. Zudem sollen insbesondere jene „anderen Fronten“, die im Rahmen der aktuell sehr dichten Diskussionen über den Ersten Weltkrieg weniger Berücksichtigung finden, in das Zentrum gerückt werden: Der Krieg in den Kolonien, in der Mittelmeerregion und im Nahen Osten. Integriert werden zudem metatheoretische und forschungsgeschichtliche Betrachtungen zum Ersten Weltkrieg. Nicht zuletzt wird eine kritische Reflektion der Schwerpunkte der aktuellen wissenschaftlichen, öffentlichen und medialen Thematisierung des Kriegsausbruchs im Jahr 1914 sowie der neuen Diskussionen um „Kriegsschuld“ und „Verantwortung“ erfolgen.