Die Klarsfeld-Kampagne
Angesichts der Tatsache, dass ein Strafverfahren und somit auch ein Auslieferungsverfahren gegen Barbie durch die Bundesrepublik nicht möglich war, blieb den Klarsfelds nichts anderes übrig, als die französische Regierung zur Stellung eines Auslieferungsantrags aufzufordern. Mit Erstaunen mussten sie jedoch feststellen, dass auch hier das Interesse an den NS-Tätern gering war. Daraufhin entschieden sie sich, die Medien einzuschalten. Am 19. Januar 1972 brachte die Zeitung L’Aurore auf der Titelseite die von John an Klarsfelds weitergeleitete Meldung, dass Barbie von Bolivien nach Peru ausgewichen sei und nun beabsichtige, in Paraguay, wo auch Mengele und Bormann vermutet wurden, unterzutauchen. Aber eine Auslieferung machte auch die Sensibilisierung der südamerikanischen Regierungen und Öffentlichkeiten notwendig. Am 27. Januar bestieg Klarsfeld deshalb das Flugzeug Richtung Lima, wo sie versuchte, peruanische Behörden und Medien über Altmann alias Barbie und seine Verbrechen aufzuklären. Kaum war sie in Peru angekommen, verließ Barbie das Land in Richtung Bolivien. Klarsfeld folgte ihm und setzte ihr Aufklärungskampagne in La Paz fort. Ihre Reise erfuhr aber nicht nur in Südamerika, sondern auch in Frankreich und den USA viel Beachtung. Schließlich beugte sich die Regierung Pompidous dem Druck der Öffentlichkeit und sie stellte einen Auslieferungsantrag.
SS-Netzwerke in Südamerika
Aber schon bevor Klarsfeld Peru erreicht hatte, hatten die peruanischen Medien begonnen, sich mit Barbie zu beschäftigen. Luis Banchero, Großunternehmer und Inhaber der Zeitung, für die auch Herbert John arbeitete, war kurz zuvor in seinem eigenen Haus, das neben dem Schwends lag, ermordet worden. John verbreitete daraufhin über peruanische Zeitungen, Barbie und Schwend stünden hinter dem Mord. Schließlich seien in Bancheros Zeitung verschiedene Artikel erschienen, die sich kritisch mit Barbie befassten. Obwohl John keine Beweise für seine Behauptungen liefern konnte, gelang es ihm, den zuständigen Richter von seiner Vermutung zu überzeugen. Der ordnete an, das Haus Schwends zu durchsuchen. Bei der am 12. April stattfindenden Durchsuchung, wurde die umfangreiche Korrespondenz Schwends beschlagnahmt. John ließ nun seine Beziehungen spielen und es gelang ihm, in Erfahrung zu bringen, dass Schwend Kontakt zu anderen in Südamerika lebenden ehemaligen SS-Angehörigen wie Wilhelm Sassen, Walther Rauff und Otto Skorzeny hatte. Was er hörte, bestätigte ihn in seiner seit Jahren vertretenen Auffassung: dass die ehemaligen SS-Angehörigen in Südamerika über ein weitverzweigtes Netzwerk verfügten und den Schutz und die Unterstützung mehrerer Regierungen genossen.
Gestapomethoden für Bolivien?
Als John seine neuesten Erkenntnisse im Mai über die Presse verbreitete, hatte sich bereits die Meinung breit gemacht, dass das französische Auslieferungsersuchen dazu verurteilt sei, auf den Schreibtischen bolivianischer Richter zu vergammeln. Nichts hatte sich seit Februar getan und die Regierung des Diktators Hugo Banzer verwies lediglich auf die Zuständigkeit der Justiz. In der Untätigkeit der Regierung sah der gestürzte bolivianische Staatschef Juan José Torres ein Indiz für die ideologische Nähe des Regimes Banzers zum Nationalsozialismus, dessen Schergen es nun beschütze. Diese Deutung verbreitete sich sehr schnell unter bolivianischen Oppositionellen und erhielt durch die Meldungen Johns über eine mit südamerikanischen Regierungen zusammenarbeitende SS-Organisation in Südamerika zusätzliches Gewicht. Bald darauf machte die Nachricht, dass Barbie von Banzer zum Fachberater in Verhörmethoden ernannt worden sei, ihre Runden.
Ches Guerilla nimmt die Verfolgung auf
Somit hatten die Klarsfelds und die bolivianische Opposition einen gemeinsamen Feind. Das schuf die Grundlage für ein gemeinsames Vorgehen. Da niemand mehr glaubte, dass es möglich sei, Barbie auf legalem Weg nach Frankreich zu bringen, kam die Idee einer Entführung auf. Gemeinsam mit den Klarsfelds planten nun Angehörige des bolivianischen Untergrunds Barbie über Chile nach Frankreich zu bringen. Mit von der Partie waren auch der französische Guerilla-Theoretiker Regis Debray und die Deutsch-Bolivianerin Monika Ertl, die beide der kommunistischen Untergrundorganisation Boliviens angehörten, dieErnesto „Che“ Guevara bis zu seiner Ermordung 1967 angeführt hatte. Für sie hatte die Entführung Barbies besondere Bedeutung, da der ehemalige Gestapo-Mann als maßgeblich Beteiligter an der Ermordung des Ches galt. Debray holte außerdem den Bolivianer Gustavo Sánchezins Boot. Die beiden kannten sich aus der Zeit, als Debray aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Guevara in bolivianischer Haft verbracht hatte. Sánchez hatte sich damals für ihn eingesetzt. Die Entführung schlug allerdings fehl. 1974 wurde zudem das französische Auslieferungsersuchen abgelehnt – nach bolivianischem Recht waren Barbies Taten bereits verjährt.
Bedrohliches Exil
Barbie blieb vorerst in Bolivien und in den Augen seiner Verfolger bedeutete das eine Gefahr für das bolivianische Volk, da sie davon ausgingen, dass er als ehemaliges Gestapo-Mitglied maßgeblichen Einfluss auf den bolivianischen Unterdrückungsapparat ausübe. In dieser Hinsicht erging es Barbie wie seinen anderen Kollegen, die nach Südamerika geflohen waren. Diejenigen, die Jagd auf NS-Verbrecher machten, sahen in ihnen nicht lediglich Justizflüchtige, sondern Vertreter eines politischen Exils, das nach wie vor eine Bedrohung für Menschenrechte und Demokratie darstellte. Die Warnung vor dieser Gefahr erfolgte sicherlich aus einer tiefen Überzeugung, sie erfüllte aber auch wichtige Funktionen. Den vergangenheitspolitischen Aktivisten Europas diente sie dazu, strafrechtlichen Ahndungsbemühungen zusätzliches Gewicht zu verschaffen und die südamerikanische Gesellschaft für die Thematik zu sensibilisieren. Südamerikanische Akteure wiederum konnten auf diese Weise das Interesse europäischer und US-amerikanischer Medien nutzen, um auf die eigenen Anliegen aufmerksam zu machen. Die geteilte Bedrohungswahrnehmung hatte nicht selten die Zusammenarbeit von Akteuren auf beiden Seiten des Atlantiks zur Folge. Fahndung und Auslieferung waren deshalb nicht lediglich Gegenstand zwischenstaatlichen Handelns, sondern sie hatten transnationale Interaktionen auf nichtstaatlicher Ebene und die Bildung transnationaler Netzwerke zur Folge. Wie gefährlich solche Netzwerke für ihn und seinesgleichen werden konnten, sollte Barbie alsbald erfahren.