In letzter Zeit lohnt es sich wirklich, die Jugendbewegungen in den kleinen Balkanstaaten zu verfolgen: Ungestüme Wut gegen das System vermischt sich dabei mit hochmodernen Ansprüchen. Zuerst Griechenland, dann Bosnien und, gleichzeitig etwas südlicher, Albanien und Kosovo, von dem im Folgenden zu sprechen sein wird.
"Es ist 'was los im Kosovo"
Rückschau in die Vergangenheit und ein Blick in die Zukunft
Bild: Drenicë Spahija, CC-BY-SA-3.0 (WikimediaCommons)
Es gibt einen alte chinesischen Sinnspruch, der seinem Empfänger „in interessanten Zeiten zu leben“ wünscht, also ein Leben voller erschütternder Umwälzungen zu haben. Also, für den Balkan und insbesondere für Albanien und im Kosovo sind diese Zeiten sehr „interessant“ - sowohl positiv als auch negativ verstanden. Wir wollen sie in zwei verschiedenen Hinsichten betrachten: jener der Studentenbewegung und jener der religiösen Bewegungen, um dann herauszufinden, welche politische Bedeutung sie haben und welche gemeinsamen Züge sie miteinander verbinden.
Auch diejenigen, die die neuesten Entwicklungen nicht genau verfolgt haben, können beobachten, dass die von den Protestbewegungen erzielten oder erstrebten Veränderungen Schritte sind, bei denen die Albaner von Korruptionstraditionen und nicht-säkularen Denkweisen der Obrigkeit (in diesem Fall ist die Rede von Universitätsvorständen und religiösen Führern) Abstand nehmen wollen. Es mangelt an säkularen Strukturen. Damit ist in diesem Fall nicht nur wörtlich „Laizität“ gemeint, sondern moralisch betrachtet, Nüchternheit und Vernunft in der Ausübung eines öffentlichen Amtes: der klassische Gegensatz zwischen persönlichen Interessen und dem Gemeinwohl ist heute Gegenstand der öffentlichen Diskussion und Kritik im Kosovo, in Albanien, sowie auf dem übrigen Balkan, der hier nicht weiter vertieft wird.
Obwohl die deutschsprachige Presse sich oft mit qualitativ anspruchsvollen Beiträgen, auch aus der Feder von einheimischen Experten, mit solchen Fragen befasst, liegen die wichtigsten und meistgelesenen Informationsquellen über den politischen und gesellschaftlichen Stand dieser Gebiete entweder in Originalsprache vor oder in der Sprache des einen Landes, das viele Interessen im Kosovo hat: den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Berichte in den verschiedenen Zeitungen im Ausland sind meist detailreich und gut belegt und meist hochaktuell, sogar fast in Echtzeit publiziert.
Aber meistens bevorzugt man in der Berichterstattung Ereignisse, die vor allem Schlagzeilen versprechen: nehmen wir eine neuere Geschichte, der zuletzt viel Aufmerksamkeit bekommen hat: Ja, es ist wahr, dass eine beachtliche Anzahl von jungen Kosovo-Albanern von den Salafisten angeworben wurde, um in Syrien zu kämpfen, mit viel Geld und, zweitrangig, und das Versprechen auf ein Märtyrertum im Dschihad. Aber man kann da von keiner sozialen Massenerscheinung sprechen: bestenfalls ist das eine Randerscheinung, die einige spannende Überlegungen über allgemeine Probleme der gesamten Bevölkerung Kosovos ermöglicht. Die Flucht ins Ausland, aus dem einen oder dem anderen Grund, führt beispielsweise auf Fragen zurück, die religiöse und jugendliche Kreise gemeinsam betreffen: Suche nach Identität, Arbeitslosigkeit, soziale und existentielle Unsicherheit. Als Reaktion auf diese Entwicklung hat die Regierung unverzüglich ein Gesetz verabschiedet, das mit bis zu 15 Jahren Gefängnis jene bestraft, die Militärdienst als Söldner im Ausland leisten.
Inzwischen aber sind andere junge Menschen mit ähnlichen Schwierigkeiten, aber aus anderen Gründen, Anfang Februar auf die Straßen Prishtinas gegangen, um gegen den Rektor der Universität Ibrahim Gashi zu demonstrieren, der seinen Lebenslauf und die seiner Mitarbeiter mit falschen oder zumindest zweifelhaften wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufgeblasen hatte. Er habe dies an privaten Hochschulen in Indien getan - eine eher kuriose Geschichte, denn nicht selten haben westeuropäische Politiker genau den gleiche Trick gegenüber albanischen Universitäten angewendet. Offensichtlich gibt es eine weitere dritte Welt, die immer „dritter“ wird. Die Schüler fielen also in das Rektorat ein und forderten den Rücktritt von Gashi. Langsamer als im Fall der jungen Krieger Allahs in Syrien beriet das Kosovo-Parlament schließlich über einen Antrag, der den Rektor aus seinem Amt entfernen haben sollte, lehnte diesen aber schließlich mit den Stimmen der Regierungskoalition der DPK Hashim Thaçis ab.
Diese Intrigen im Feld zwischen einer politisierten Universität und einer kriminalisierten Politik dürfen an sich nicht überraschen, da sie ja auch in politisch viel weiter fortgeschrittenen europäischen Ländern bestehen. Was vielmehr überrascht, ist der kühne Idealismus der Studenten, die bereit sind, ihre eigene Sicherheit und Freiheit für mehr Transparenz zu riskieren, was in der Vergangenheit niemanden empört hätte. Der Skandal erinnert an den in Deutschland um den gefälschten Doktortitel des damaligen Verteidigungsministers Karl Theodor zu Guttenberg, mit dem Unterschied, dass sich dort die öffentliche Meinung einstimmig gegen den Verdächtigen aussprach und er schließlich von seinem Posten zurücktreten musste.
Seit langem wird in den verschiedenen Balkanstaaten auf die Entstehung von Volksbewegungen gehofft, die sich der Kultur der Bestechung (al. bakshish), der Veruntreuung, der Vetternwirtschaft auf höchster politischer und religiöser Ebene widersetzt. Im Kosovo dachte man vor genau einem Jahrzehnt, jene Bewegung bereits gefunden zu haben. Gegen die vorherrschende Korruption im Inneren und die institutionelle Ohnmacht nach Außen wurde im Juni 2004 die Bewegung Vetëvendosje! („Selbstbestimmung!“, kurz : VV) gegründet, die sich im Laufe der Jahre als Partei ausbildete und bei den Parlamentswahlen von 2010/2011 auf Anhieb 12 % der Stimmen erhielt. Der Erfolg setzte sich auf lokaler Ebene mit der Wahl des Bürgermeisterkandidaten von Prishtina Shpend Ahmeti fort.
Die politische Ausrichtung dieser Aufstellung ist ein linker Nationalismus, eine Denkschule, die in Südosteuropa inzwischen fast zur Tradition wird: protektionistisch und radikal, in diesem Fall vor allem gegenüber jeglichen Verhandlungen mit Serbien, aber auch bezüglich der internationalen Bedeutungslosigkeit. Ihre Agenda war und ist Albanien- und vereinigungsfreundlich. Die Hauptgefahr einer solchen radikalen Bewegungen ist der Dirigismus von oben bzw. die autoritäre Leitung: Zu oft in der Geschichte haben wir beobachtet, wie antidemokratische Einstellungen auch in linken Parteien durch den Vorwand gerechtfertigt wurden, die Demokratie und die Integrität der Partei bewahren zu wollen, und im Fall der Vetëvendosje! hat die Hauptlast dafür die Journalistin und Parlamentsabgeordnete Alma Lama getragen. Eng mit Albanien verbunden, wie viele andere Intellektuelle im Kosovo auch, und der Verteidigung der Menschenrechte verpflichtet, ist Alma Lama eine kraftvolle politische Persönlichkeit, die nicht nur gegen religiösen Radikalismus kämpft, sondern auch für eine gerechtere und „westlichere“ Behandlung der Frauen auf dem Balkan. Im Juni 2013 hat sie zusammen mit weiblichen Parlamentsmitgliedern die gegenüber Frauen diskriminierenden Äußerungen des Imams von Prizren Irfan Salihu, eines wegen seiner auf Youtube untertitelten Videopredigten weltbekannten Priesters, verurteilt. Diese Haltung hat sie in Widerspruch zu der aktuellen Linie der Partei gebracht, die mit ihrem Anführer Albin Kurti den Weg für das Bündnis mit der kleinen, aber radikalen Gerechtigkeitspartei (Partia und Drejtësisë e Kosoves) gebahnt hatte. Diese weist nicht zufällig durch ihren Namen auf die ideologische Nähe zur populistischen islamisch-konservativen türkischen AKP hin. Unter anderem vespricht sie die Aufhebung der Beschränkungen für Kleid und Religionsunterricht im öffentlichen Bereich. Plötzlich orientiert sich also eine fortschrittliche Aktionspartei wie die VV mehr an Ankara als an?
Das war für Alma Lama, die moderne Aktivistin Kosovos, nicht akzeptabel. Beleidigungen und Drohungen aus der Bashkësia Islame e Kosovës (Muslimische Gemeinschaft Kosovos, die 85% des Landes vertritt) ausgesetzt, erklärte sie sich bestürzt von dieser kontraproduktiven Annäherung an die Islamisten (Wahhabiten, Salafisten und die Muslimbruderschaft) und verließ die eigene Fraktion, die sie gegen diese Angriffe nicht verteidigt hatte. Der radikale Islam sei für andere Länder ein Hebel zur Einmischung, wie beispielsweise für die Türkei, und - überraschenderweise - für Serbien, das darauf ziele, die Albaner religiös zu spalten. Der neue religiöse Radikalismus sowohl im Kosovo als auch tief im Süden Albaniens (wo sich Hunderttausende orthodoxe Albaner als Griechen bezeichnen) nutzt in der Regel über erhebliche finanzielle Investitonen der relativ armen und daher vulnerablen Bevölkerung. Diejenigen, die durch den Einfluss der neuen islamischen Kulturzentren radikalisiert werden, tun dies oft, um eine Rente zu bekommen und um ihre Kinder zu erziehen.
Dies bedeutet aber freilich nicht, dass der Islam selbst auf dem „Amselfeld“ keine jahrhundertealte Tradition besitzt. Auch die Vermutung, dass jeder Mann mit einem langen Bart oder jede verschleierte Frau durch Katar, Oman, die Vereinigten Arabischen Emiraten, oder, noch kurioser, durch Serbien alimentiert wird, ist weder zwingend noch erklärt sie die gesellschaftliche Rolle des zeitgenössischen Islams. Sagen wir einfach, dass die fortschreitende Islamisierung dieses Kleinstaats einer Entwicklung gleichkommt, die eine Zeit lang, ob willentlich oder nicht, selbst den unangefochtenen Herrschern des Kosovos, den Vereinigten Staaten von Amerika, nicht aufgefallen ist. Sie sollte eher im Rahmen der Suche nach einer kosovarischen Identität betrachtet werden, die nicht nur die faktische Unabhängigkeit von Serbien, sondern auch die Selbstbestimmung gegenüber der größeren Schwester Albanien beabsichtigt.
Einerseits haben wir also eine weltliche Gesetzgebung, wie zum Beispiel die neuen, sehr umstrittenen Lärmverschmutzungsverordnungen, welche Gebete auf Minaretten und das Glockengeläut der Kirchen im Land verbieten, zu festgelegten Uhrzeiten eine bestimmte Lautstärke zu überschreiten. Auf der anderen Seite haben wir eine Ablehnung des strengen albanischen Säkularismus, wie anhand der politischen Manöver von Albin Kurti, eines Progressiven, überraschenderweise, zu beobachten ist. Aber was ist dieser Säkularismus? Wieso ist er geschichtlich so bedeutend auf dem Balkan? Es ist eine unbestreitbare geschichtliche Tatsache, dass es unter den multireligiösen Staaten Südosteuropas, ausschließlich in von Albanern verwalteten Gebieten erreicht wurde, den Radikalismus und seine verheerenden Folgen zu unterbinden.
Bei der albanischen Bevölkerung des ehemaligen Jugoslawiens, als ihre Gebiete noch zentral von Belgrad verwaltet waren, gab es drei Gründe, die die Regierenden daran hinderten, wirksam gegen den religiösen Radikalismus vorzugehen:
- Traditionell konnten die Balkanvölker, darunter die meisten von denen, die albanisch bewohnte Gebiete außerhalb der Republik verwalteten, nur theoretisch säkulare Staaten hervorbringen.
- Sollte einer dieser Staaten jemals den religiösen Radikalismus unter den Albanern erfolgreich eingedämmt haben, hätte dies bedeutet, auch den eigenen Radikalismus bei den südslawischen Gemeinschaften unterdrücken zu müssen. Denn, wenn strenge antiradikale Maßnahmen einseitig nur gegen eine Minderheit der Bevölkerung getroffen worden wären, würde dies als ethnische Diskriminierung aufgefasst werden. Dieses Problem bestand nicht, als albanische Regierungen den Radikalismus einzudämmen begannen. Zum Beispiel unternahm Albanien schon zehn Jahre nach der Unabhängigkeit im Jahre 1912 entscheidende Maßnahmen für das staatliche Zusammenleben: es machte die albanisch-orthodoxe Kirche unabhängig von der griechischen; es verbot, jegliches Gebet gekniet und/oder verneigt zu verrichten, da dies bereits in vielen Ehrencodices des traditionellen Kanun untersagt war; es verbot das Kopftuch für muslimische Frauen, da dies in den albanischen Traditionen ebenso fehlte.
- Die nationalistischen Regierungen der nicht-albanischen Staaten, welche die albanischen Bevölkerungsgruppen unter sich hatten, haben ebenso Einfluss wie neuerdings radikal-islamische Mächten aus dem Nahen/Mittleren Ostens mit ihren erheblichen Finanzspritzen. Der Vorgang der islamischen Radikalisierung ist genau das, was diese Menschen kulturell vom Rest des Balkans entfremden und sie von Europa abspalten würde. Dieser Trend könnte unter anderem diesen Regierungen nochmals die stille Zustimmung von Europas Großmächten für die Entvölkerung der albanisch bewohnten Gebiete sichern. Richten wir den Blick zunächst vor allem auf Griechenland: Massaker, Verfolgungen, Ausbürgerungen und Bevölkerungsaustausche zu Lasten der muslimischen Albaner (Çamen) zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts während des Ersten Balkankrieg, während des Ersten Weltkriegs und die ethnischen Säuberungen der 50er Jahre in der Region Epirus. Aber auch auf Miloševićs Serbien, das die bereits bestehenden interethnischen Konflikte verschärfte, bis es mit den Kämpfern der UÇK (Kosovo-Befreiungsarmee) Krieg führte. Die daraus folgenden politischen Katastrophen und humanitären Krise kennen wir alle. Aus Mangel an belastbaren persönlichen Erfahrungen wird nicht auf den Halbbürgerkrieg in Mazedonien 2001 eingegangen.
Das wirksamste Heilmittel ist meistens, die wirklichen, alle Ethnien betreffenden Probleme anzusprechen, die die Bevölkerungen auf dem Balkan betreffen: nicht die religiöse Radikalisierung, die eher ein Symptom bildet, sondern vor allem das materielle und moralische Elend in allen Bereichen des Lebens dieses regionalen Großraums. Das Bild einer für Albaner eher unüblichen religiösen Radikalisierung zu überzeichnen, ist oft ein Fehler der Presse sowie ein politischer Trick, um von den wirklichen sozialen Fragen, wie zum Beispiel den sozialen und studentischen Forderungen, abzulenken. Die echten religiösen Radikalen sind nicht die Albaner. Es stimmt, dass es einen von Minderheiten getragenen Radikalismus im Kosovo gibt, aber er wird wieder verschwinden. Kosovo ist zwar traditionell religiöser als die Republik Albanien, aber dies wird durch die Tatsache ausgeglichen, dass wir im 21. Jahrhundert leben - voller Möglichkeiten für Kommunikation und Bildung, wodurch der Radikalismus im Kosovo schließlich auch sein Ende finden wird. Es wird ausreichen, das zuzulassen, was in der Republik Albanien gilt: die Albaner entscheiden lassen.