Im Vorfeld der Reichtagswahlen 1930 gab der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens eine Broschüre heraus. Auf dem Cover als „Vertraulich“ gekennzeichnet wandte sie sich an die deutschen Jüdinnen und Juden: „Wollt ihr ein Hitler-Deutschland? Wollt ihr eure wirtschaftliche Existenz durch Boykott-Hetzer gefährden lassen? Wollt ihr eure Kinder in eine haßerfüllte Zukunft hineinwachsen lassen? Muß man die ehrliebenden und verantwortungsbewußten jüdischen Deutschen erst anfeuern, daß sie sich helfen?“ Die Broschüre ist von Verzweifelung und Wut durchzogen; eindringlich listet sie auf, in welchem Ausmaße der Antisemitismus in der großen Politik ebenso wie im Alltag Fuß gefasst hatte. Was nach 1933 geschah, lernt man hier, geschah auch schon zuvor: Im März 1930 brachten die Nazis ein Gesetz zum Schutz der deutschen Nation in den Reichtag ein, das Zuchthausstrafen vorsah, wenn jemand „durch Vermischung mit Angehörigen der jüdischen Blutsgemeinschaft oder farbigen Rassen zur rassischen Verschlechterung und Zersetzung des deutschen Volkes beiträgt“ oder „deutsches Volkstum und deutsche Kulturväter fremdrassigen Einflüssen auszuliefern“. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert, Lieferanten denunziert. Und wenn Walter Benjamin zehn Jahre später in seinen Thesen zur Geschichte schreibt, dass „auch die Toten ... vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein [werden]“, so ist das offenbar nicht nur Ahnung, sondern auch eine Erfahrung, die viel weiter zurückreicht.
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