Das a.r.t.e.s. forum ist die interdisziplinäre Jahrestagung der a.r.t.e.s. Graduate School, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland einlädt, aus ihrer jeweiligen disziplinären Perspektive zum Tagungsthema Bezug zu nehmen. Das a.r.t.e.s. forum 2015 versammelte Beiträge zum Thema "reception and transculturation".
Prof. Dr. Hans Peter Hahn (Ethnologie, Universität Frankfurt am Main) zum a.r.t.e.s. forum 2015
Einleitung
Die Optik ist eine trügerische Angelegenheit. In wie vielen Situationen des Alltags sind wir darauf angewiesen, der durch gewölbte oder spiegelnde Gläser bewirkten Präzision des Sehens oder der auf diese Weise vergrößerten Reichweite des Erkennungsfeldes zu vertrauen? Alltägliche Sehgewohnheiten haben sich perfekt an den Spiegel, die Brille, das Mikroskop etc. angepasst, und die zugehörigen Geräte scheinen als ein unentbehrliches Werkzeug der Orientierung im Alltag etabliert zu sein. Es gibt nur einige kleine, irritierende Momente, in denen der Betrachter gewarnt wird, dieser Optik nicht zu trauen und in der Beurteilung der Lage mit zu bedenken, dass es sich um eine Verzerrung handeln könnte, und der sichtbare Horizont viel näher oder weiter entfernt ist, als es den Anschein hat.
In diesem Beitrag soll die Warnung vor einer möglichen Täuschung der eigenen Wahrnehmung als Ausgangsbeobachtung dienen, um für die Frage zu sensibilisieren, wie Menschen ihre materielle Umwelt wahrnehmen. Welche unmittelbaren, visuellen, haptischen und olfaktorischen Auffassungen und Eindrücke der Gegenstände in unserer Umgebung gibt es? Welche wissenschaftlichen Methoden der Erkenntnis stehen zur Verfügung, um Dinge „richtig“ oder in eine „objektivierten Form“ zu betrachten, sie zu verstehen und einzuordnen? Damit sind einige grundlegende epistemologische Fragen nach dem Status des Materiellen in der Lebenswelt angesprochen. Häufig werden solche Fragen nicht gestellt, weil man glaubt, die unmittelbare Beobachtung sei evident und hinreichend für eine „objektive“ Beschreibung: Schauen wir nur genau genug auf die Dinge, dann wissen wir schon, welche Eigenschaften sie haben.
Das Argument und die zentrale Hypothese dieses Beitrags stellen sich gegen solche Vereinfachungen. Die Annahme, die unmittelbare Beobachtung ergebe eine klare, zeitlich konstante und eindeutige Wahrnehmung, ist falsch! Immer schon bezieht sich jede alltägliche Beobachtung auf vorgängige, historisch und kulturell definierte Kategorien, die ihrerseits eine Frage der Interpretation und selten widerspruchsfrei sind. Das gilt einerseits im Hinblick darauf, in welchen Kontext eine Sache zu stellen wäre, also bezüglich der Frage nach der Kategorisierung. Das gilt andererseits auch für die Frage, was eigentlich genau passiert, in dem hiermit zunächst einmal provisorisch eingeführten Moment der „Beobachtung“ eines materiellen Gegenstands.
Die Ethnologie ist für die Beantwortung dieser Fragen in zweierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung. Einerseits ist sie eine Wissenschaft der Beobachtung. Man kann ethnografische Methoden sehr gut im Sinne von Alfred Schütz als „mitweltliche Beobachtung“ auffassen: Das Ziel einer solchen Beobachtung ist es, an der Entfaltung von Sinnhorizonten teilzuhaben, sowie beobachtete Ereignisse vom Handeln des Anderen her zu deuten. Zweitens sind ethnologische Standpunkte deshalb hier besonders gefragt, weil im Mittelpunkt solcher Beobachtungen Kultur als „Alltagsgeschehen“ steht. Was Menschen alltäglich, mitunter sogar unbewusst und routinehaft tun, gilt aus ethnologischer Sicht immer als wesentlich für die Gestalt einer Kultur. Kaum ein ethnografischer Bericht kann sich der Relevanz von materiellen Gütern für dieses Alltagshandeln entziehen, weil gerade der Umgang mit Dingen zum selbstverständlichen (aber vielfach übersehenen) Teil einer Kultur gehört. Auch wenn Ethnologen sich durchaus nicht immer für Dinge interessiert haben, im Moment der konkreten Beschreibung bestimmter Alltagshandlungen, sind diese Berichte von Dingen als Teil der beobachteten Kultur angefüllt.
Es ist kaum möglich, sich Ansammlungen von Dingen mit noch größerer Mobilität vorzustellen, als die Sammlungen von ethnografischen Objekten in den völkerkundlichen Museen Europas. Es handelt sich um Dinge, die um die halbe Welt gereist sind, um hierzulande zu Sammlungen zusammengestellt zu werden. Ihre Mobilität war von Anfang an durch das Interesse an der Betrachtung motiviert: Man wollte die Dinge sehen, sie untersuchen, sie im Vergleich studieren, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu erzeugen. Welche epistemologischen Implikationen damit verbunden sind, wird noch näher zu erläutern sein.
Dieser Beitrag soll seinen Ausgangspunkt bei der Frage nach den Sichtweisen auf diese besonderen Sammlungen nehmen. In einem darauffolgenden Abschnitt soll dann ergänzend die Frage diskutiert werden, ob es andere Betrachtungsweisen geben könnte, gegenüber den in westlichen Kulturen dominierenden. Das Ziel wird es sein, unterschiedliche Sichtweisen auf Dinge aufzufächern. Diese Fragen sind von übergeordnetem Interesse. Wäre in den Kulturwissenschaften insgesamt nicht viel gewonnen, wenn wir ein reflektiertes Spektrum von Betrachtungsweisen des Materiellen hätten? Der Schluss dieses Beitrags soll mit einer hoffnungsvollen Erwartung verbunden werden: Wie viel könnten wir über Kultur und über kulturelle Diversität erfahren, wenn in unseren Beschreibungen auch die Frage berücksichtigt wird, welche Art der Betrachtung von materiellen Dingen jeweils im Spiel ist?
Beobachtungen des Fremden: Materielle Kultur der anderen als Weltzugang
Die Überraschung über die Diversität der Kulturen im globalen Maßstab – etwa im 16. und 17. Jh. besonders deutlich zu spüren – wurde nur noch übertroffen von der in etwa zeitgleich auftretenden Gier, materielle Zeugnisse der ‚anderen Kulturen‘ in den ‚eigenen‘ Besitz zu bringen. In den sogenannten Wunderkammern hatten die Dinge der Barbaren, Kopffüßler und Kannibalen ihren festen Platz; die Kataloge, die schon damals als Anleitungsbücher für die Erstellung einer Wunderkammer zirkulierten, sahen einen festen Platz für die ethnografischen Objekte als sogenannte ‚Exotika‘ vor.
Eine gut ausgestattete Wunderkammer hatte in der Regel auch eine Abteilung mit den von anderen Kontinenten stammenden Objekten, damals im Übrigen ungetrennt Zeugnisse der anderen Kulturen wie auch Naturdinge aus jenen Weltgegenden umfassend. Die Verweigerung jeder Systematik unterscheidet die älteren Wunderkammern deutlich von den im Laufe des 19. Jh. entstehenden Museen für Völkerkunde. Aber für die älteren Wunderkammern sowie für die jüngeren Museen gilt: auf die sichere materielle Basis der ethnografischen Objekte konnten beide Formen von Sammlung zurückgreifen. Im Fall der Sammlungen des preußischen Königs in Berlin ist auch ein Übergang zu rekonstruieren. Sie wurden zunächst in das sogenannte „Neue Museum“, zusammen mit den germanischen Altertümern gebracht, um dann 20 Jahre später auf Initiative Adolf Bastians ein eigenes Museum zu erhalten.
Einerseits gibt es also einen Übergang: Materielle Dinge, die ‚von weither kommen‘, wurden weiter als Teil einer Sammlung genutzt. Ohne dass die Dinge selbst sich in besonderer Weise verändert hätten, erhalten sie andererseits im neuen Kontext einen anderen Status. Waren sie in der Wunderkammer Teil der Logik feudaler Selbstrepräsentation, indem sie auf Wissen, Können und den Status des königlichen Besitzers verwiesen, so kommt ihnen nun ein mehr öffentlicher, deutlicher an objektivierten Interessen orientierter Status zu. War es bei der Wunderkammer noch der Ort selbst, der Palast, so spielt für das Prinzip ‚Museum‘ der genaue Ort keine Rolle: Das Museum versteht sich zunächst funktional: Es ist ein Werkzeug der Bildung und ein Laboratorium wissenschaftlicher Erkenntnis. Damit wird Wahrnehmung der Dinge grundlegend verändert: Was ethnografische Objekte in der genauen Betrachtung über sich preisgeben, wird zu einer scheinbar objektiven Aussage: Es ist nicht mehr der königliche Besitzer, dessen Status durch die Dinge aufgewertet wird, sondern die Wissenschaftlichkeit als bürgerlicher Telos, als Erfüllung und Vollendung von etwas, das ‚objektiv gewusst zu werden‘ verdient. Die neue Logik der Wahrnehmung bringt zudem ganz praktische Änderungen mit sich: Ein Museum hat der Öffentlichkeit zu dienen, z. B. mit festen Öffnungszeiten.
Wichtiger sind aber die inhaltlichen Veränderungen: Die Gegenwart der Dinge war für den König und seine Besucher eine Gelegenheit, sich zu erbauen, Harmonie zwischen Seele und Welt wiederherzustellen, dem Auge Ablenkung zu schenken, etc. Die „Harmonia Mundi“ war ein Erziehungsprogramm, aber keines der wissenschaftlichen Forschung. Die Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts entstand in der Gegenwart von (feudalem) Betrachter und Objekt. Im Museum ist das anders: Nicht die Unmittelbarkeit der Beobachtung, sondern das kluge Arrangement ist die dominierende Weise der Annäherung an das Museum. Indem bestimmte Objekte nebeneinanderstehen, wird Erkenntnis möglich, im besten Fall sogar augenfällig.
Ähnlich wie im 16. Jh. die Logik der Selbstrepräsentation einen Markt für ‚exotica‘ geschaffen hat, der durch Händler und Kataloge befriedigt wurde, führte das neue epistemische Paradigma des Museums zu einer zuvor unerhörten Gier nach materiellen Dingen aus fremden Kulturen. Um das wissenschaftliche Programm des Vergleichs der Kulturen zu realisieren, brauchte man viele Objekte und wenigstens zum Teil andere, als von den Wunderkammern her verfügbar waren. Man wollte vergleichen, die Dinge einander gegenüberstellen. Dies erfolgte in der Erwartung, durch das neue Nebeneinander eine Verbindung zu erkennen. Die genaue Beobachtung, der detaillierte Vergleich und die Interpretation formaler Unterschiede sollten es möglich machen, mehr über die Kulturen auszusagen. Damit sollte jeder einzelnen Kultur einen Platz in einer durch Evolution oder Diffusion von Kulturkreisen definierten Weltordnung des Kulturellen zugewiesen werden. Die Dinge (genauer: Die Summe der Dinge einer bestimmten Herkunft) wurden als Repräsentanten der Kulturen aufgefasst. Frances Larson hat diese Methode der Erkenntnis durch Dinge einmal sehr schön als „Vergleichende Anatomie der Kulturen“ bezeichnet.
Dieses epistemische Prinzip des forschenden Museums im 19. Jh. gilt ganz unabhängig davon, ob man nun als Beispiel das Berliner Museum für Völkerkunde oder das Oxforder Pitt Rivers-Museum heranzieht: Die Dinge galten als eine objektive Grundlage der Kulturen, die als Teil der ethnografischen Sammlung eingefroren und haltbar gemacht worden waren. In der Laborsituation der sehr bald überfüllt wirkenden Schausäle sollten sie nun als passive Zeugen zur Lieferung von Evidenz bereitstehen. Schon diese Zumutung der Passivität (zum Zwecke der genauen Betrachtung) erwies sich als ein Problem, dem man z. B. in Berlin mit speziellen Glas-Stahlschränken begegnen musste. Die gesammelten Dinge aus aller Welt waren nämlich viel hinfälliger, als man erwartet hatte; Insekten, Schimmel und andere Verfallsprozesse setzten ihnen zu. Dem trat man entgegen, indem die luftdichten Schränke trocken gehalten und mit Insektizid gefüllt wurden. Das wissenschaftlich begründete „Stillstellen“ war einerseits eine technische Herausforderung, die man z. B. in Berlin gut meisterte. Sie wurde andererseits als Voraussetzung für die wissenschaftliche Erkenntnis aufgefasst, die allerdings nicht wirklich Bestand hatte. Aus dem einen oder anderen Grund erfuhren die dominierenden Konzepte der Gliederung und Zusammenstellung von ethnografischen Objekten (und damit zugleich: Kulturen), nämlich die Evolutionslehre und die kulturhistorische Methode, in den Jahrzehnten nach 1900 eine immer deutlicher werdende Ablehnung.
Der Verlust der Glaubwürdigkeit der alten globalen Kulturkonzepte führte bald auch zur Krise der Museen für Völkerkunde insgesamt. Sie verloren ihren Status als Laboratorien. Für die Argumentation dieses Beitrags ist es wichtig, diese Krise der Erkenntnis als das Scheitern eines epistemischen Paradigmas zu verstehen: Die Zeugenschaft der Dinge hatte ausgedient. Man glaubte nicht mehr an die Überzeugungskraft der Arrangements. So wenig die Evolution als integrierende Theorie der Kulturen der Welt akzeptiert wurde, so wenig wurden die Dinge aus allen Teilen der Welt noch weiter als „Skelett der Kultur“ anerkannt.
Materielle Kultur im Kontext ethnografischer Feldforschung
Das methodische Spektrum der Ethnologie hatte sich zwischenzeitlich ohnehin weiter geöffnet. Der stationäre Aufenthalt an ‚einem anderen Ort‘ erschien etwa zum Beginn des 20. Jh. als der neue Königsweg der Erkenntnis. Nicht mehr die Betrachtung der Dinge, sondern das Gespräch mit den Menschen, den Informanten und die Beobachtung von deren Tätigkeiten standen nun im Mittelpunkt. Die Dinge verloren ihre Anziehungskraft und wurden – im Kontrast zur unmittelbaren Beobachtung der Menschen – nur noch als sekundäre Evidenz gesehen. Malinowski interessierte sich nicht für das Boot selbst oder für seine genaue Form. Sein Interesse an solchen materiellen Phänomenen beschränkte sich darauf, sie als Ergebnis der Fähigkeiten (= Handwerk) und der Intentionen (= risikoreiche Seefahrt) zu kategorisieren. Kein Wunder, dass der epistemische Status der Dinge in den Hintergrund trat: Eine besondere Erkenntnis aus der Beobachtung der materiellen Objekte wurde nicht mehr erwartet.
Diese Entwicklung der Ethnologie lässt es zu, darin eine zunehmende Geringschätzung der Dinge zu erkennen; aber sie ist doch zugleich eine neue Transformation: Erinnern wir uns an die irrsinnigen Ansammlungen von Dingen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. entstanden waren und deren Status als Erkenntnisobjekt: Damals interessierte sich niemand für die Frage, wie jedes einzelne Objekt genau hergestellt worden war, was es am Ort der Herstellung bedeutet, und mit welchen Intentionen der Akteure (Hersteller, Besitzer) damit dort verknüpft waren. Die Kultur, die Gruppe der Träger einer Kultur wurde als ‚Blackbox‘ gesehen. Die ethnografischen Objekte entsprangen dieser Blackbox und wurden aufgewertet zu Zeugen kultureller Differenzen.
Die Ethnografie des 20. Jh. befreite sich von der Vorstellung des Zeugencharakters der Dinge, aber sie bewirkte eine andere Engführung: Materielle Kultur steht nun für die Fähigkeiten, Bedürfnisse und Bedeutungen der Hersteller und Besitzer. Ethnografische Objekte waren zwar nicht mehr „Zeugen der Kultur“, aber eben doch „Zeugen handwerklichen Könnens“, „Zeugen sozialer Einbettung“ usw. Die Dinge waren der Zugang zu dem, was man in den Menschen vermutete oder als Ergebnis einer Ethnografie zeigen zu können glaubte.
Damit habe ich – mit Rücksicht auf den epistemischen Status der Dinge – eine negative Bilanz gezogen: Dinge sind nicht mehr Zeugen einer Kultur, sondern nur noch Zeugen des Handelns Einzelner. Man hätte das auch als ein Gewinn bilanzieren können. Ich möchte aber meine Argumentation noch weiterverfolgen und meine kritische Sicht noch einmal zuspitzen. Mit der Ethnografie im Sinne der unmittelbaren oder teilnehmenden Beobachtung, etwa ab 1920, tritt nämlich eine Universalisierung der westlichen Dingbeziehung ein: Die cartesianische Ordnung der Welt, der zufolge der Mensch als Kreator die Welt gestaltet, wird in solchen Ethnografien ohne Prüfung auf die untersuchten Gesellschaften weltweit übertragen. Was im epistemischen Kontext der globalen Kulturkonzepte des 19. Jh. noch als ‚Blackbox‘ im Unklaren belassen wird, das vereinnahmen nun Ethnografen auf der Grundlage ihres Anspruches, Handlungsweisen und Intentionen der Akteure beschreiben zu können. Dabei entstehen neue Einseitigkeiten. Wenn Malinowski (der hier nur als Beispiel herangezogen wird) den Bootsbau der großen Übersee-Kanus beobachtet, dann unterstellt er, Handwerker und künftiger Bootsbesitzer würden wie ein westlicher Handwerker oder bricoleur auf das Arbeitsstück und seine Werkzeuge schauen. Ihren Intentionen, ihren Fähigkeiten und ihren Bedürfnissen wird das Material untergeordnet.
In diesem epistemologischen Rahmen sind die Dinge ‚Objekte‘, d. h. sie sind ‚objectum‘, Gegenwurf, dem Menschen und seinen gestalterischen Möglichkeiten entgegenstehend, im besten Falle zum Nachgeben verdammt, so wie eben der Mensch die Welt nach seinem Willen formt. Mit dieser rhetorischen Überspitzung soll eine Einseitigkeit angesprochen werden, die ganz generell für Ethnografien der „goldenen Zeit“ (1920–1970) zu beobachten ist. Eine Reflexion über das Mensch-Ding-Verhältnis fand in dieser Periode nicht satt. Die Auseinandersetzung mit Umwelt und Material oder der Gebrauch von Technologie war ein Weg der Erkenntnis in der Ethnografie, aber stets in der Annahme, alle Menschen weltweit würden nach westlichem Muster auf die Dinge zugreifen.
Mit dieser Einseitigkeit begründe ich meine Behauptung einer negativen epistemologischen Bilanz: Die Dinge werden nicht nur zu nachgeordneten Quellen der Erkenntnis degradiert, sondern der Zugriff auf sie erfolgt bis auf die Ebene des Individuums nur noch nach dem Vorbild westlicher Kulturen. Man könnte es auch so formulieren: Anstatt die Diversität von Kulturen weltweit zu zeigen und verschiedene Modelle von Mensch-Ding-Beziehungen zuzulassen, hat die ethnografische Dokumentation jener Zeit eine Uniformität geschaffen und unbewusst die Perspektive auf das Materielle nach dem westlichen Vorbild modelliert.
Dinge als Objekte (‚objectum‘ – ‚Gegenwurf‘) überall? Eine kritische Bilanz
Meine Bilanz ist soweit keine erfreuliche. Ethnologie, gerade im Hinblick auf ihr Verständnis von materieller Kultur hat unwillentlich eine eher unglaubwürdige Transformation der Mensch-Ding-Beziehung geleistet. Es fehlt am Nachdenken über die Perspektive. Die gängigen Auffassungen über materielle Kultur als „Resultat“ menschlichen Handelns sind vielleicht sogar als „Kollateralschaden der wissenschaftlichen Beschreibung“ zu verstehen.
Von den Dingen blieb nicht mehr viel übrig außer dem, was dem Paradigma der repräsentationalen Logik entspricht. Ethnologen als Akteure einer solchen Vereinheitlichung haben damit viele Eigenschaften aus den Dingen herausgefiltert, sie ausgelöscht oder für irrelevant erklärt. Ethnologen ließen in ihrer Beobachtung nur das übrig, was in der Logik des cartesianischen Denkens keine Überraschung mehr sein kann.
Etwa um 1970 herum war es ein Ergebnis dieser Behandlung in der ‚Mühle des epistemischen Reduktionismus‘, dass man materielle Kultur als nicht mehr für hinreichend relevant erachtete, ein eigenes Forschungsfeld zu begründen. Wenn doch alles mit „Bedeutung von“ oder „Funktion für“ zu erklären war, wieso dann weiter Aufwand für die ethnografischen Objekte aus aller Welt betreiben? Wenn es auf der Welt nur ein Modell gibt, wie Menschen sich mit Dingen auseinandersetzen, wozu dann Dinge selbst noch näher untersuchen?
In den Museen wurden die Vitrinen mit den ethnografischen Objekten zur Nebensache. Viel wichtiger waren nun Texttafeln und Diagramme, denen man das Potential zusprach, besser zu erklären, was der Fall war in fremden Gesellschaften. In der Folge tendierte der epistemische Wert der materiellen Dinge gegen null. Diese Kritik ist jedoch keine aktuelle Entdeckung, sondern wurde schon von Ethnologen in der Zeit um 1970 als ein Defizit der wissenschaftlichen Betrachtungsweise erkannt. Man wurde sich darüber im Klaren, um wie viel ärmer der fachliche Zugang zu Dingen im Vergleich zum alltäglichen Verständnis war. Das gilt auch, wenn damals noch kein Konzept vorlag, wie man es besser machen könnte. Als ein Ausdruck epistemologischer Ratlosigkeit verstehe ich die zu jener Zeit geäußerte Aussicht, man könne sich doch der materiellen Kultur deshalb ganz gut annähern, weil dies eine besonders einfache, wenig anspruchsvolle Möglichkeit sei, andere Kulturen zu beschreiben.
Die Ethnologie stand vor einem Scherbenhaufen, den sie selbst mit zu verantworten hatte, und die Debatte um Writing Culture (1986) machte es nicht einfacher, überhaupt etwas über andere Kulturen auszusagen. Dabei wäre es kein schlechter Anfang gewesen, einmal die eigene materielle Kultur der Wissenschaftler in den Fokus zu nehmen. Bruno Latour hat das ja wenige Jahre später in Angriff genommen, indem er die Laboratorien der Pedologen und anderer Fachleute untersuchte.
Ich selbst habe einmal in einer früheren Publikation die (fatalen) Konsequenzen der Tatsache einer erstaunlich geringen Reflexivität in der langen Geschichte des Studienfelds materielle Kultur erörtert. Zunächst stellt sich die Frage, warum im 19. Jh. kein Ethnologe die materielle Kultur der anderen in Beziehung setzte zur eigenen, weder zur eigenen Materialität der Schreibstuben und Hörsäle noch zur materiellen Kultur der westlichen Gesellschaften insgesamt. Während in den Feldern Religion, Verwandtschaft und Politik die Herkunftsgesellschaft immer als „Folie“ mitgedacht wurde, ist für die materielle Kultur eine solche Referenzebene nicht festzustellen. Gab es im Feld der Religion wenigstens implizit einen vehementen Laizismus von wichtigen Ethnologen wie Durkheim oder Frazer, so fehlt jede erkennbare Positionierung von Edward Tylor (der den Begriff ‚materielle Kultur‘ überhaupt prägte) oder von Leo Frobenius. Hätte man damals die Materialität der eigenen Lebenswelt mit bedacht, so wäre sicher sofort aufgefallen, welchen fundamentalen epistemischen Fehler es bedeutet, die Dinge zu Zeugen einer Kultur insgesamt oder zu Zeugen von Handlungsweisen zu machen.
Schluss: zum ontologischen Status der Dinge
Am Ende meines Beitrags soll ein Ausblick auf die Gegenwart und die mögliche Zukunft der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Dingen stehen. Eine Kritik der ethnologischen Praktiken hat ja nur dann einen Sinn, wenn das dadurch ausgelöste Nachdenken zu einer anderen, besseren – in diesem Falle: weniger universalistisch vereinfachenden – Praxis führt. In der Tat gibt es in den letzten 15 Jahren Versuche, den Status der Dinge vorsichtiger anzugehen, und vor allem auch zu fragen ob die Mensch-Ding-Beziehungen in anderen Gesellschaften eine andere sein könnte, und, wenn es sich so verhält, welche Folgen das für das Verstehen des selbst und die Welt hat.
Ein wichtiger Autor ist in diesem Kontext Philippe Descola, der bei den Achuar im Amazonas gearbeitet hat. Er versuchte dort zu verstehen, wie Menschen, Tiere und Pflanzen sich zueinander verhalten. Er kam dabei zu überraschenden Einsichten. So können Geräte des Gartenbaus als Lebewesen klassifiziert werden. Weiterhin können jagdbare Tiere den Menschen gleichgesetzt werden, und schließlich gibt es auch Situationen, in denen andere Menschen als Tier oder Ding bezeichnet (und auch so behandelt) werden. Was Descola vorgefunden und beschrieben hat, ist eine flexible Kategorisierung. Dem entspricht eine Ontologie, die sich der cartesianischen Ordnung der Welt entzieht und situativ immer wieder neue Gruppierungen von „denkenden“ und „nicht-denkenden“ Wesen erschafft. Dies mag für einen Moment wie eine Befreiung wirken. Descola hat daraus große Gedankengebäude gezimmert, in denen vorübergehend die Ordnung von Kultur vs. Natur aufgehoben ist, genauso wie die Gegenüberstellung von Geisteswissenschaft (Humanities) vs. Naturwissenschaft (Science) ihren Sinn verliert.
Allerdings ist zu befürchten, dass solche Interpretationen über die gefundenen und dokumentierten Beobachtungen weit hinausgehen. Tatsache bleibt, dass die Achuar kein System der Wissenschaften errichtet haben. Ihre spezifische Ontologie hat dies vielleicht auch unmöglich gemacht. Flexible Kategorien sind möglich, und diese Erweiterung des Denkhorizonts verdanken wir der Untersuchung materieller Kultur bei den Achuar. Aber daraus eine Kritik der westlichen wissenschaftlichen Ordnung abzuleiten, könnte übertrieben sein.
Ein weiterer wichtiger Autor ist Martin Holbraad. Er hat im Anschluss an Bruno Latours klassischer Publikation über die Symmetrische Anthropologie eine „symmetrische Ethnografie“ von Orakelobjekten des Ifa-Kultes auf Kuba durchgeführt. Im Mittelpunkt seiner Studie stehen die materiellen Dinge des Orakels: Das Brett und das Puder, das sich unter den Händen des Orakelmeisters in das eigentliche Medium der Divination verwandelt. Aber schon in diesem einen zusammenfassenden Satz steckt ein Missverständnis: Dieses Puder mit all seinen Eigenschaften ist nach Holbraad eben nicht nur „Medium“, nein, es ist materiale Präsenz des Transzendenten. Eigenschaften des Puders (Flexibilität, Leichtigkeit des Verwahrens von Spuren, die Fähigkeit stets neue Formen anzunehmen) sind Eigenschaften der transzendenten Wesen und nicht zuletzt Entwürfe der Welt selbst. Holbraad kritisiert konventionelle Ethnografien, die den Orakelmeister und andere Angehörige der Gesellschaft befragen würden: „Wie seht ihr die Welt?“ und erst in einem zweiten Schritt die im Gespräch (logozentrisch) erfahrenen Eigenschaften in den Dingen repräsentiert wiederfinden würden.
Holbraad verfährt anders: Er besteht darauf, zunächst den Puder und das Brett zu betrachten. Er spricht den Dingen eigene Konzepte zu, die vom Orakelmeister geduldet sowie als „Seiendes und im Material Gedachtes“ angenommen werden. Aber, so Holbraad, die „Konzepte der Dinge“ bedürfen keiner Erklärung mit Worten. Sie sind einfach da und machen die Lebenswelt der Beteiligten plausibel. So wie der ‚bricoleur‘ weiß, wie eine Schraube zu halten ist, ohne es mit Worten erklären zu können, so wie er weiß, welche Konsistenz der Gips haben muss, ohne dass er eine Anleitung dazu gelesen hat, so gibt es dem erklärenden Wort vorgängige Konzepte in den Dingen und Materialien, die in einer Welt wie der der Orakelmeister eine eigene Ontologie begründen. Indem Holbraad den ‚bricoleur‘einführt, baut er eine Brücke zum Konzept des „wilden Denkens“ von Claude Lévi-Strauss.
Ein drittes Beispiel soll den Aufbruch zu neuen Sichtweisen in der Ethnologie deutlich machen. Es geht dabei um Alfred Gells Buch „Art and Agency“ (1998). Wie Gell auf der Grundlage eigener ethnografischer Untersuchungen aus Ozeanien, Melanesien und Australien zeigt, sind die kunsthandwerklichen Erzeugnisse der Gesellschaften dort nicht nur „ästhetische“ Erzeugnisse. Sie werden nicht nur nach Schönheit und formaler Vollendung beurteilt. Zusätzlich sind sie auch Teil des sozialen Geschehens. In diesen Kunstwerken erkennen die Angehörigen jener Gesellschaft die soziale Ordnung, das Verhältnis von Einzelnen zu Gruppe, von Familien innerhalb einer Lineage und so weiter. Diese Objekte sind nicht nur „Repräsentation von“ (so wie es konventionelle Ethnografie erklärt hätte), sondern auch eine Anleitung für die Zukunft, für die Art sich und die Gruppe zu sehen. Dinge greifen in die soziale Struktur ein, legen Verbindungen, Allianzen und Gemeinschaften nahe. Sollte sich die Struktur ändern (ein Streit bricht aus!) so muss das Kunstwerk zerstört werden. Ein neues wird geschaffen. Nicht die Dauerhaftigkeit (= Repräsentation), sondern die Möglichkeit, diese Dinge immer wieder neu zu schaffen, lässt sie in den Augen der Mitglieder dieser Gruppen geeignet erscheinen, am sozialen Leben teilzuhaben.
Während man im Westen sagen würde: „Zeige mir, was du hast, und ich sage Dir, wer du bist“, würde man in Ozeanien eher sagen: „Zeige mir, wie das nächste Kunstwerk von Dir / Deinem Bruder / Deinem Onkel aussieht, und ich sage Dir, wer Du sein wirst.“ Diese kunstvollen Objekte drücken keinen Status quo aus, sondern legen einen Entwurf vor, wie die Gesellschaft sein wird.
Die drei hier abschließend genannten Beispiele sensibler Ethnografien der Dinge haben je andere Beiträge dazu geleistet, Ontologien zu zeigen, die von unserer Welt verschieden sind. In ihrer Beschreibung der Dinge sind sie durch eine entscheidende Innovation geprägt: Sie sehen in den Dingen nicht nur „Bedeutungen von“ und auch nicht nur „Funktion für“. So wie die Dinge von Descola, Holbraad und Gell eingeführt werden, sind sie beteiligt an dem Entwurf der Welt. Sie greifen tief in das Handeln der Menschen ein, und entwerfen eine (flexible) Art der Kategorisierung von Menschen, Tieren und Dingen.
Ich möchte an dieser Stelle nicht entscheiden, wie weit die Interpretation tragen, und ob in 10 oder 20 Jahren die Ethnologie auf der Basis solcher Studien eine andere Ontologie präsentieren wird. Aber man kann schon jetzt sagen, dass diese Studien sich absolut glaubwürdig gegen die epistemologische Verkürzung vieler konventioneller Ethnografien gestellt haben. In diesen Studien lernen wir, dass es möglich ist, problematische Transformationen des Dingbezugs zu vermeiden. Es gibt eine Vielzahl von Mensch-Ding- Beziehungen, und es ist eine vordringliche Aufgabe einer reflektierten Ethnografie, diese Pluralität erkennbar werden zu lassen. Erst wenn man wissenschaftlich den Weg beschreitet, unterschiedliche Arten der Wahrnehmung des Materiellen als gleichberechtigt zu betrachten, wird man der Diversität von Kulturen wirklich gerecht. Nicht überall auf der Welt sind die Dinge Repräsentanten von einer Bedeutung. Das westliche Modell darf nicht durch unbedachte Transformationen universalisiert werden. Wie genau solche alternativen Mensch-Ding- Beziehungen aussehen, das zu zeigen, ist eine der vornehmsten Aufgaben der Ethnologie in der nahen Zukunft.