Das Forschungsprojekt
Der Schlaf und, eng damit verknüpft, der Traum sind seit Jahrtausenden Gegenstand von Mythen, Erzählungen und Bildern, die versuchen, Schlafen in seinem Wesen und seiner Bedeutung für die menschliche Existenz zu erfassen. Doch obgleich der Schlaf selbst und auch das Nachdenken über ihn als „anthropologische Konstante“ verstanden werden könnten, hat sich in den letzten 130 Jahren die Art und Weise, wie Schlafen gedacht, beschrieben, erforscht, vermessen, kontrolliert und praktiziert wurde, entscheidend verändert. Die Vorstellungen vom Menschen an sich, von seinem schlafenden Körper, seiner träumenden Seele bzw. seinem träumenden „Gehirn“ waren mit dem Siegeszug der modernen Wissenschaft einem grundlegenden Wandel unterworfen. Seit dem späten 19. Jahrhundert ermöglichten neue Methoden und Techniken einen ganz anderen „wissenschaftlichen“ Blick auf den Schlaf. Gleichzeitig mussten die Zeit und der Raum für das Schlafen in die Rhythmen einer industrialisierten Gesellschaft eingepasst werden.
Das Projekt nimmt erstmals die Geschichte Wissens über den Schlaf im „langen 20. Jahrhundert“ (Raphael) in Deutschland in den Blick und bezieht auch die transatlantischen Wechselwirkungen mit der lange führenden Schlafforschung in den USA mit ein. Die Geschichte des Schlafwissens ist dabei weit mehr als die Geschichte einer wissenschaftlichen Idee: Das Wissen über den Schlaf war eng verknüpft mit kulturellen Deutungsmustern, ideologischen Setzungen, alltäglichen sozialen Veränderungen und Machtverhältnissen und nicht zuletzt mit ökonomischen Interessen in der modernen Gesellschaft.
Von Beginn an ging es den „Schlafexperten“ nicht nur um Verstehen und Heilen, sondern auch darum, dass das Individuum den industriellen Alltag und den Arbeitsprozess, aber auch außeralltägliche Situationen wie Krieg und Krankheit besser bestehen konnte. Der Mensch in der industrialisierten Gesellschaft sollte „gut“ schlafen, um seine Ressourcen zu schonen, er sollte aber auch effektiv und „schneller“ schlafen. Der Schlaf musste eingepasst werden in neue Zeitordnungen von Arbeit und Konsum, Familienleben und Frontalltag. Experten setzten ihn aber auch gezielt ein, um Menschen zu „beherrschen“: Der durch Medikamente erzwungene „Dauerschlaf“ galt als Therapiemethode, mit Schlafentzug wurde gefoltert. Eine historische Untersuchung des Schlafwissens kann so aufzeigen, auf welche mehr oder weniger subtile Weise die Gesellschaft auf das Individuum zuzugreifen versuchte.
Gleichzeitig verweist die Geschichte des Schlafwissens aber auch auf die Grenzen von Optimierungs- und Kontrollphantasien: Bis heute „widersetzt“ sich der schlafende Mensch dem Vermessen und Verstehen, Schlaf bleibt ein schwer kontrollierbares „Geheimnis“. So gingen die Fortschritte der Schlafforschung im 20. Jahrhundert Hand in Hand mit der wachsenden Angst vor existenzbedrohenden und „massenhaften“ Schlafstörungen. Und nicht zuletzt bildet der Schlaf nicht nur die „Maximalschranke“ des Arbeitstages, er bietet dem Individuum auch immer von Neuem Raum zum unproduktiven Nichtstun und zum Träumen.
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http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2013/id=4385
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2014-3-098