Der englische Maler William Turner gehöre zu den "problematischen Existenzen der Neuzeit", folgert Julius Meier-Graefe in einer vernichtenden Kritik aus dem Jahre 1908. Diese Urteil findet auch seinen Weg in die dritte, viel rezipierte Auflage von Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte von 1920. Prof. Dr. Karlheinz Lüdeking von der Universität der Künste Berlin untersucht in seinem Vortrag die von Meier-Graefe vorgebrachte Ablehnung aus philosophischer und kunsthistorischer Perspektive. In einer Detailanalyse des zentralen Textabschnitts prüft Prof. Lüdeking die Argumente, die der Kritik Meier-Graefes zugrunde liegen und ihn von Turners Kunst als "Entartung" sprechen ließen.
Zur Tagung
Der Kunstkritiker, Kunstvermittler und Kunsthändler Julius Meier-Graefe (1867-1935) wurde durch seine außerordentliche Aktivität auf vielen Gebieten der Kunst zu einer zentralen Gestalt des kulturellen Geschehens von der Jahrhundertwende bis zu Beginn der 1920er Jahre. Wie kein anderer etablierte er durch seine Schriften eine „neue Schule des Sehens“, die die moderne, zeitgenössische Kunst in den Vordergrund stellte, aber auch zu einer Neubewertung von Künstlern der Vergangenheit führte. Der heutige Kanon der Kunstgeschichte geht wesentlich auf seine Neuperspektivierung der Kunstgeschichte zurück.
Durch seine persönliche Verbundenheit mit Künstlern wie Edvard Munch, Henry van de Velde und Henri de Toulouse-Lautrec, als Mitbegründer der bibliophilen Zeitschrift PAN sowie durch seine aktive Förderung der neuen dekorativen Bewegung, des Jugendstils und des französischen Impressionismus, wurde Meier-Graefe zu einem einzigartigen Mentor und Anreger, zu einer kulturellen Instanz. Meier-Graefe verkörperte exemplarisch die „Generalisten“-Generation um 1900, die im Sinne eines europäischen Kulturtransfers keine nationalen Grenzen kannte. Seine lebenslange Verbundenheit mit der Kunst und Kultur Frankreichs machte ihn zu einem bedeutenden Vermittler der Moderne.
2015 jährt sich das 80. Todesjahr Meier-Graefes – Anlass, diese Grenzgängerfigur in seiner deutschen Hauptwirkungsstätte, Berlin, zu würdigen und erstmals den aktuellen Forschungsstand zu seinem umfangreichen Werk und der modernen Kunstkritik um 1900 auf einer internationalen Tagung zur Diskussion zu stellen.