Als 1989 der Osten der Welt vor dem Westen aufgab und sich mit ihm in Frieden wiedervereinigte, begann sich das Land dazwischen, das weder dem Osten noch dem Westen gehörte, das Land der südlichen Slawen, genannt Jugoslawien, in Krämpfen zu winden, zu entzweien, zu vierteilen, um dann in seine Bruchstücke zu zerfallen. Ein Viertel Jahrhundert später existiert keine von Titos Teilrepubliken mehr.
Von einer sehr künstlichen, durchaus unnatürlichen Grenze innerhalb dieses neuen, heruntergekommenen „Jugoslawiens im Kleinen“, das Bosnien und Herzegowina ist, haben wir bereits gesprochen1. Doch es besteht schon seit 1992 eine andere, ebenso unbekannte, aber viel greifbarere Grenze, die heute für weitere schmerzhafte Trennungen sorgt: Jene zwischen Ostbosnien und dem serbischen/montenegrinischen Gebiet – der sogenannte Sandschak2 - zwei einst geschichtlich und wirtschaftlich äußerst eng verbundene Gegenden.
Der Umkreis der Stadt Priboj am Fluss Lim befindet sich genau in diesem Länderdreieck und ist ein besonders unglücklicher Landstreifen. Dies war einst die Trennungslinie zwischen west- und oströmischem Reich – der Name Lim geht auf das lateinische limes zurück und bedeutet Grenze. Die befahrbaren Straßen in diesen Alpen des Balkans verlaufen schlangenartig, die Grenzen überschreitend, sodass man noch heute 80 Prozent dieser serbischen Gemeinde nur durch eine regionale Straße über eine Exklave Bosniens erreichen kann. Dieser Fleck auf der Karte entspricht dem Dorf Sastavci und gehört irrwitzigerweise dem serbischen Teil Bosnien und Herzegowina, der berüchtigten Republika Srpska. Fährt man beispielsweise von Priboj (Serbien) bis zum Dorf Sjeverin3 (Serbien) in derselben Gemeinde auf der Staatsstraße 194, muss man acht Grenzlinien, acht Zollbehörden, acht Pass- und Warenkontrollen überwinden. Zu viel für Europa, viel zu viel für Handel und Wirtschaft eines Gebietes, dessen Wohlstand einst eng mit dem Erfolg des Nutzfahrzeugherstellers FAP verbunden war, welches am stärksten von den Kriegen und von der 2000er-Krise betroffen war und jetzt vollkommen verfallen ist.
Diesen Status Quo muss die dreiköpfige Familie Bajramović, zusammen mit den anderen 202 Seelen des Dorfes Zabrnjica, aushalten. Dazu kommt eine schwerwiegende Besonderheit: Sie sind Bosniaken, d. h. muslimische Jugoslawen, von denen heute knapp 150.000 noch im Sandschak leben. Doch Serbien ist heute im Wesentlichen ein orthodoxer Nationalstaat, der die Muslime im Land anerkennen müsse, es aber tatsächlich meistens nicht tut. Dieser Umstand ruft bei den Bosniaken das unangenehme Gefühl hervor, in ihrer Heimat fehl am Platze zu sein, erzählt mir der Hausherr Behudin, bei dem ich zu Gast bin.
Dieses Dorf im Flusstal, genannt Zabrnjica, ist eines von noch knapp 7000 im Mittelwestbalkan und ist das Vergrößerungsglas, durch das man alle Eigenschaften dieses Gebiets kristallklar betrachten kann. Behudin, von allen „der Weiße“ (ser. beli) genannt, ist Taxifahrer in Priboj und hat Bekanntschaften in der ganzen Großgemeinde (die allerdings nicht mehr Einwohner umfasst als ein Wiener Bezirk): So verdient er den Unterhalt für seine Familie, die sonst gänzlich von den Erzeugnissen ihres Landes lebt. Sie gelten als reich, weil sie sich keine Lebensmittel kaufen müssen – dieses aber auch nicht könnten weil es im Dorf ohnehin keinen Laden gibt. Viele Häuser der ganzen Gegend stehen leer; die brachliegenden Felder stehen zum Verkauf, weil mindestens dreißig Familien in den 90er Jahren vor einem Krieg nach Westeuropa geflohen sind, der im Sandschak nicht wirklich ausgefochten wurde. Hier wie in ganz Mittelserbien erlebt man die Folgen der Entvölkerung: viel Land, wenig Leute.
Die meisten Dorfbewohner sind heute älter als fünfzig Jahre, mit der Ausnahme der wenigen jungen Männer, die als Holzfäller arbeiten – ein unbarmherziger Beruf, der vorzeitig altern lässt – so wie auch die Familie Bajramović.
Geographisch abgeschnitten von Bosnien und fünf Stunden entfernt von Belgrad, müssen sie allein folgenden drei Kräften Widerstand leisten: der Natur, dem Staat und Vorurteilen. Im Mehrvölkerstaat Jugoslawien waren sie als Muslime keine Minderheit – der Begriff „Minderheit“ selbst kam für sie nicht in Frage und wurde nicht verwendet, da er nicht verwendet werden musste. So meinte auch Tito: „In Jugoslawien müssen wir beispielhaft zeigen, dass es keine Minderheit und Mehrheit geben darf. Der Sozialismus lehnt Minderheit und Mehrheit ab. Er sucht die Gleichberechtigung zwischen Minderheit und Mehrheit, so dass es dann weder Minderheit noch Mehrheit gibt, sondern ein Volk – der Hersteller und Arbeiter – der sozialistische Mensch.“4
Aber jetzt, mit der Wiederkehr des Alten, kehrten auch die alten konfessionellen Trennungen zurück und die Bosniaken des Sandschaks wurden zu einer Minderheit islamischen Glaubens, die ebenso wie die mehrheitlichen orthodoxen Serben durch linientreue nationalistische Parteien politisch vertreten werden. Die Religion herrscht hier über das Ungewisse, sie ermutigt und tröstet, wenn der Tod oder der Feind naht. Gerade in ungewissen Zeiten, wie den gegenwertigen eines schmerzhaften Übergangs in den neuen Nationalstaat, verbreitet sich wieder Ungewissheit in Öffentlichkeit, Politik, Erziehung und Schule5.
Doch Beli kennt nach wie vor weder Kirche noch Moschee, sein Platz des Glaubens ist innerhalb der Wände seines Hauses und seines Herzens, so wie zu Titos Zeiten. Morgen ist Džuma, also Freitag, der Versammlungstag für die Muslime, aber er geht nicht hin: Nur die Alten pflegen diesen Brauch oder aber diejenigen, die keine Arbeit haben und öffentlich zeigen möchten, welch gute Muslime sie sind. Wie viele Taxifahrer nimmt er kein Blatt vor den Mund und scheut auch kein Gespräch. Mit rhetorischer Kraft sagt er etwas mir Unvergessliches: "Diesem Teil der Erde tut nur die Vergangenheit weh, und alles Schlimme geschieht wegen der Vergangenheit; wir möchten nach vorne schauen, aber das Alte zieht uns immer wieder nach hinten".
In Serbien regiert nun unangefochten die rechte Fortschrittspartei SNS von Vučić und Nikolić, beide einst offene Unterstützer der Schlächter von Muslimen in Bosnien, heute an Gedächtnisschwund leidende Proeuropäer.
Doch Beli behandelt alle gleich – ungeachtet ihres Hintergrundes. Wenn der örtliche Hodscha, ein muslimischer Geistlicher und Vertreter der im Sandschak politisch aktiven Islamischen Gemeinschaft, die Familie abends besucht, wird er in landestypischer Manier mehr als Schürzenjäger denn als Glaubensmann zum Besten gehalten. Die Stimmung ist entspannt und häuslich, während Belis Ehefrau frische meze (Häppchen) aus dem Garten auftischt.
Belis Sohn Semir hört uns während aller Gespräche zu: Er ist das einzige Kind im Dorf, geht in eine Schule in den umliegenden Bergen, doch hat keine Spielkameraden. Kaum halbwüchsig, schon spricht und denkt er wie ein Erwachsener, mit der Weisheit und Ruhe der Alten. Sein älterer Bruder ist in meinem Alter und alleinstehend und auf der Suche nach Arbeit ins Ausland ausgewandert.
Die Landflucht ist hier wie andernorts nicht nur zu beziffern, sondern sie ist auch immer ein schmerzhafter Prozess, dem entgegengetreten werden muss, indem die Politik ihren Beitrag zur Dezentralisierung der Verwaltungen und zur materiellen und immateriellen Entwicklung kleinerer Zentren leistet.
Die Verhandlungen zum EU-Beitritt Serbiens haben aber erst dieses Jahr begonnen, und werden bestenfalls in den Jahren 2020–2022 abgeschlossen sein, zusammen mit Montenegro, aber ohne Bosnien: Der muslimisch geprägte Sandschak, und mit ihm die Familie Bajramović, werden somit eines Tages EU-Bürger sein – sie müssen nur noch zwei Jahrzehnte aushalten in der Hoffnung, dass dies etwas bringen wird.
Werden in diesem wirtschaftlich riskanten Spiel der EU-Erweiterung auch die Menschen hinter den Landkarten berücksichtigt werden? Die Menschen im Sandschak, so auch die Familie Bajramović, haben zwar gelernt, mit zweitausend, zweihundert und auch nur zwanzig Euro monatlich zu leben und werden das wohl noch einige Jahre aushalten. Doch ihre Kinder, die zur falschen Zeit am falschen Ort zur Welt kamen, können vielleicht nicht mehr so lange warten.
1Goražde, in: L.I.S.A. - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung
2"Südwestserbien vor den Wahlen", in: L.I.S.A. - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung
3Dessen Abgelegenheit unter anderem Oktober 1992 die Entführung und die Ermordung von 16 seiner Bürger durch Kräfte der Serbischen Republik Bosniens begünstigte, siehe „Massaker von Sjeverin“.
4Übersetzt aus Josip Broz Tito, Gespräch aus 1968.
5Nehme man dafür die Einführung 2001 durch den wohl weltlichen Zoran Đinđić des Religionsunterrichts in den angeblich bekenntnisfreien staatlichen Schulen Serbien und andere Einflussnahmen des SPS über die Kultur: „Lasst Tesla in Frieden” – Säkularismus in Serbien, in: L.I.S.A. - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung